Neue Himmerlandsgeschichten oder Dänische Trilogie

Veröffentlicht von Dr. Manfred Luckas am 16. Dezember 2022 in Rezensionen

»Das Leben ist zu kurz. Die Zeit vergeht.«

Dem ist wohl erkenntnistheoretisch kaum etwas hinzuzufügen außer der Quelle des Zitats, das aus den Himmerlandsgeschichten stammt, dem zweiten, 1904 erschienenen, Band der Trilogie von Johannes V. Jensen. Den ersten, Himmerlandsvolk, veröffentlichte er 1898 und wurde damit über die Grenzen Dänemarks hinaus mit einem Schlag berühmt. 1910 schloss er mit Neue Himmerlandsgeschichten die große Geschichts- und Geschichtenschreibung seiner Heimatregion ab. Erstaunlicherweise sind Jensens literarische Preziosen in all den Jahren niemals vollständig ins Deutsche übertragen worden, was auch Ulrich Sonnenberg moniert, der der Beschreibungskunst des Autors ebenso präzise wie sensibel nachspürt und für die großartig lebensgesättigte Übertragung ins Deutsche verantwortlich ist. Dem Guggolz-Verlag ist es also wieder einmal zu verdanken, einen literarischen Schatz aus den Tiefen trüber Zeitströme gerettet und komplett in eine frische, anspruchsvolle und gestalterisch gelungene Form gebracht zu haben. Die ersten beiden Bände sind 2017 und 2020 erschienen, der dritte nun in diesem Herbst.

Hier tritt Jensen diesmal nun auch als Sammler der Geschichten in Erscheinung, reflektiert wie ein Ethnologe über historische Brüche und Entwicklungen, stellt Volkslieder neben mythische Erzählungen. Dass der Einbruch der Moderne in seine bäuerlich geprägte, vorindustrielle Heimat, nicht zuletzt durch die neue Eisenbahnlinie, für die Himmerländer eine harte und folgenreiche Schädelbasislektion darstellte, verzeichnet er mit einer Mischung aus Melancholie und Fatalismus. Die Risse in der Gesellschaft und in den einzelnen Menschen literarisch stimmig zu verorten, lassen bei ihm Zweifel an der Erzählbarkeit dieser Phänomene aufkommen, denen er deshalb auch in essayistischer Form, mit erläuternden Passagen und Reflexionen, Herr zu werden versucht. Doch immer sind seine Heldinnen und Helden, wie Jørgine oder Pferdehändler Ajes, dabei Manifestationen eines naturverbundenen, unverwüstlich-archaischen Lebenswillens und einer Eigenwilligkeit, der Jensen durch seine originelle, betörende Sprache einen zeitlosen Resonanzboden einzieht. Gleichermaßen darf man jedoch von den manchmal krude- vitalistischen Passagen irritiert sein. Sie lassen, recht unverhohlen, das Ideal des nordischen Mannes durchscheinen und zeigen so Ambivalenz und Schattenseiten Jensens, der 1944 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wurde.

Faszinierend modern, komplex und in der Analyse pointiert, kommt für mich hingegen der stärkste Text der Sammlung, Der Emigrant, daher, eine Rhapsodie von Aufbruch und Scheitern, vom Auswandern nach Amerika als neuer Vermessung der Welt:

Wie viele sind freiwillig und mit verbundenen Augen über den Atlantik ihrer Auslöschung als Mensch entgegengegangen, um sich als Dänen zu verlieren und mit anzusehen, wie ihre Kinder – wenn es gut geht und sie Amerikaner werden – in einer anderen Klasse verschwinden.

Johannes V. Jensen: Neue Himmerlandsgeschichten. OT: Himmerlandshistorier, tredie Samling (1910). Aus dem Dänischen von Ulrich Sonnenberg und mit einem Nachwort von Heinrich Detering. Guggolz Verlag, Berlin 2022. Gebunden, 340 Seiten, 25,00 €.

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