»Fantasy – Genre zwischen Mythos und Manga«: Eine Nachlese zur FDA-Arbeitstagung

Veröffentlicht von Kay Ganahl am 5. Januar 2016 in Berichte aus dem Verband

Wir vom Freien Deutschen Autorenverband in Nordrhein-Westfalen – viele AutorInnen, die sich unpolitisch und unparteiisch der Literatur in ihrer bunten Vielfalt verschrieben haben – begegnen uns nicht nur u. a. auf den zahlreichen Lesungen in NRW, auf Sitzungen und Treffen des Landesverbandes. Für das Jahr 2015 war die von unserem Landesverband ausgerichtete Arbeitstagung des FDA-Bundesverbandes »Fantasy – Genre zwischen Mythos und Manga«, zu der auch ich mich als Tagungsteilnehmer angemeldet hatte, angesetzt! Nun, meine Erwartungen an diese Tagung, die eben besonders der Arbeit an der Literatur dienen sollte, waren durchaus nicht gering: AutorInnen, die sich treffen, um auf gleicher Augenhöhe zu kommunizieren, zumal um kreativ zu sein sowie literarisch Neues kennenzulernen – in Workshops, die von KollegInnen durchgeführt werden. Diese Arbeitstagung fand vom 4.–6. Dezember 2015 im Tagungshaus der katholischen Akademie Die Wolfsburg in Mülheim/Ruhr statt – leitend organisiert von unserem Landesvorsitzenden Dr. Manfred Luckas, der, insbesondere in Zusammenarbeit mit der 2. Vorsitzenden des Landesverbandes Marlies Strübbe-Tewes, mit großem Engagement für die Vorbereitung einer Tagung sorgte, deren Themenwahl mit »Fantasy« im Vorfeld etwas umstritten war.

Fantasy – ein wichtiges Genre

Fantasy wird in der literarischen Welt hie und da etwas geringschätzig betrachtet, weil sie mancher als reines Unterhaltungsgenre für die Leserschaft betrachten. Entsprechenden Vorbehalten begegnete der FDA-NRW während der Arbeitstagung mit erhellenden Vorträgen (insbesondere Dr. Frank Weinreich/Landesverband NRW: »Theorie, historische Entwicklung und heutige Bedeutung der Fantasy-Literatur«), mit der Arbeit in den Workshops und durch den literarisch-intellektuellen Austausch der Mitglieder untereinander, sprich den freien Meinungsaustausch und das offene Sich-Kennenlernen. Dazu kam natürlich auch, dass einige AutorInnen durch Lesungen von eigens für diese Arbeitstagung geschriebenen Short Shorts am 4. und 5. Dezember unter Beweis zu stellen wussten, wie wichtig Fantasy als facettenreiches Genre für die deutsche Literatur ist.

Als ich am Nachmittag des 4. Dezember 2015 in der Wolfsburg eintraf, sah ich sogleich NRW-Kolleginnen, mit denen ich mich seit Jahren literarisch austausche – nämlich die »Ruhrpott«-Schriftstellerinnen Halina M. Sega, Dagmar Schenda und Angelika Stephan. Wir bogen einige Minuten später in den Hengsbach-Raum der Wolfsburg ein, in dem sich zu Tagungsbeginn über vierzig Personen einfanden.

Ein Tagungsbeginn mit viel Schwung

Unser Landesvorsitzende Dr. Luckas begrüßte alle angereisten Tagungsteilnehmer, ihm folgte mit einer Ansprache der Bundesvorsitzende Dr. Kullnick aus München. Um die Bedeutung des Ruhrgebiets näher zu beleuchten, hielt daraufhin Hans Kuhn einen kurzen Lichtbildvortrag (Hans Kuhn: »Entwicklung des Ruhrgebiets«). In diesem wurden die besonderen Merkmale und Eigenheiten der NRW-Region hervorgehoben. Abends trug Dr. Frank Weinreich wissenschaftlich vor – theoretisch fundiert, an der historischen Entwicklung des Fantasy-Genres orientiert. Ausgangspunkt der Fantasy ist der Mythos, der welterklärend und normativ zu verstehen ist. Er wandelte sich im Laufe der Jahrtausende und Jahrhunderte der Kulturgeschichte des Menschen immer wieder. Aus Mythen, Sagen und antiken Legenden entwickelten sich Erzählungen der Genres Horror, Sciencefiction und eben der Fantasy. Dem Vortrag Dr. Weinreichs folgte ein offenes Gespräch mit den Teilnehmern, in welchem auch einige Detailfragen aufgeworfen wurden. Im Vorfeld der Tagung hatte Dr. Luckas um Zusendung von Short Shorts (neue Form der Kurzgeschichte) zum Thema Fantasy gebeten. Viele aus unserem Landesverband schickten Dr. Luckas eigene Werke zu. Daher kam es nach dem Weinreich-Vortrag und zum Ausklang von Tag 2 der Tagung zu Short-Short-Lesungen. Jeder konnte sein Short Short den geneigten Zuhörern vorlesen. Hier zeigte sich, dass die Fantasy auch unter Mitgliedern des Freien Deutschen Autorenverbande schon Fuß gefasst hat.

Tag 2 und 3 der Arbeitstagung standen unter dem Zeichen »Workshop«: Es fanden schwerpunktmäßig die in Modulen organisierten Workshops statt — nämlich Dr. Luckas’ »Arbeit am Mythos – Mythen und ihre literarisch-mediale Rezeption in der Moderne“ sowie Prof. Dr. J. Martins »Strukturen, Plots und Charaktere – Die Dramaturgie der Fantasy von Oedipus bis Mononoke Hime«. Dr. Regina E. G. Schymiczek, die mit »›Die Erschaffung der Welt‹ – Personal, Bühne und Hintergründe für eine gute Fantasy-Geschichte« einen Workshop durchführte, ließ die Teilnehmer im Rahmen der Fantasy die Urgründe menschlicher Erfahrung kennenlernen!

Mit Stoff und Papier: Der »andere« Workshop

Allerdings war ja die Arbeitstagung in Mülheim/R. nicht auf das Literarische und Wissenschaftliche begrenzt. Es ging auch darum, Grenzen zu anderen Künsten gezielt verschwimmen, die Offenheit des menschlichen Geistes walten zu lassen. Unsere Nordrhein-Westfälischen Kolleginnen Marlies Strübbe-Tewes (2. Vors. FDA-NRW), Rosemarie Bühler und Maria Stalder zeigten in ihrem Workshop »FantasMorgana: StiftStoffTextFarbeForm – Fantasy-Figuren- und Landschaftsgestaltung« in Text, Bild und mittels der unterschiedlichsten Materialien auf, wie interessant die Arbeit mit Stoffen sein kann! (R. Bühler hat eine neue, sehr spezielle Technik zur kreativen Arbeit mit Stoff und Papier erfunden, die hier zur Anwendung kam.) Dass der Fantasie leichthändig auch und gerade mit Zeichenstift und Pinsel »Auslauf gegeben« werden konnte, gehörte hier auch zum Angebot der drei »malenden Autorinnen«. Einige KollegInnen im Freien Deutschen Autorenverband sind in der Bildenden Kunst genauso zu Hause wie in der Literatur. Sehr gern wurde das Angebot der FDA-Kolleginnen angenommen. Auch ich traute mich, Bekanntschaft mit der neuen Stofftechnik zu machen. Und ich war dann zufrieden damit, ein neues Bildwerk erstellt zu haben. Zum Ende des Workshops wurde eine Auswahl der gestalterischen Ergebnisse ausgestellt.

Der Mythos in seinem entwicklungsgeschichtlichen Zusammenhang

In zwangloser, freundlicher Atmosphäre stellte Dr. Luckas in seinem Workshop mit literaturwissenschaftlicher Kompetenz heraus, wie wichtig die Bedeutung des Mythos für die Geistesgeschichte des Abendlandes ist. Der Mythos ist nach Dr. Luckas das »Erzählerbe der Menschheit« mit Geschichten, die nie stattgefunden, aber durch Weitererzählen in der Geschichte breite Bekanntheit erlangt haben. Sie erklären Unerklärliches, benennen oft den Schrecken. An den konkreten Bedürfnissen der Workshop-Teilnehmer praktisch orientiert, wies er durch Vorstellung einiger Textoriginale von sehr berühmten Schriftstellerkollegen wie Reiner Kunze und Robert Walser auf die schon bekannte literarische Mythen-Verarbeitung. Die KollegInnen waren sehr interessiert, es entspann sich auch leicht das Gespräch über die Textbeiträge. Um alle auch kreativ partizipieren zu lassen, gab Dr. Luckas jedem die Möglichkeit, einen am mythologischen Denken orientierten eigenen Text zu verfassen – jetzt, sofort. Wer oder was bewegte sogleich meinen Denkapparat? Es war dies Gerd Müller, der Fußballstar – ein lebender Mythos – und dessen tragische Krankheit. Nach rund einer Viertelstunde der kreativen Arbeit am eigenen Text lasen mehrere ihre kleinen, schnell verfassten Werke vor. Ein voller Erfolg!

Die Bedeutung des Konflikts für die Fantasy

Prof. Dr. Martin ging dynamisch, präzise und profund an die Sache, zumal im Gespräch mit den Workshop-Teilnehmern. Er stellte wichtige Strukturprinzipien von Fantasy-Geschichten vor. Die Konflikteskalation (aufeinander aufbauende Konflikte) ist hier äußerst wichtig. Die »Heldenreise« – nachempfunden der Entwicklung eines menschlichen Individuums, so dass sich Menschen in der »Heldenreise« gewissermaßen wiederfinden können – wird als Strukturprinzip in Fantasy-Geschichten sehr oft verwendet. Sie erfolgt gemäß Dr. Martin in den Schritten RUF ZUM ABENTEUER/ZURÜCKWEISUNG DIESES RUFS/AUFBRUCH ZU ABENTEUERN/DIE ERSTEN PRÜFUNGEN; ABENTEUER/HILFE DURCH DAS ÜBERNATÜRLICHE/ÜBERSCHREITEN EINER SCHWELLE HIN ZUR ANDERSWELT/DIE TRANSFORMATION DES HELDEN, z. B. durch Erkenntnis, ein Amulett etc./RÜCKKEHR INS ALLTÄGLICHE, OFT WIDERWILLIG/ NEUES WISSEN ODER NEUE MACHT FINDEN IN DER ALLTAGSWELT ANWENDUNG. Andere Strukturprinzipien wie das »verschachtelte Erzählprinzip« (siehe 1001 Nacht); »Vierteilung« in Einführung, Entwicklung, überraschende Wendung und Konklusion) sowie die »Fünferform« (langsamer Einstieg mit Glück, Liebe, Friede – gefolgt von Krieg, Pathos und Tragödie – alsdann mit einer Reise, viel Musik, schließlich der Rückkehr zum Ausgangspunkt) sind ähnlich bedeutsam wie die »Heldenreise«. Auch und besonders für den Plot einer Fantasy-Geschichte ist der Konflikt kennzeichnend, mithin der wichtigste Faktor. Es gibt Protagonist und Antagonist, die gegensätzliche Interessen haben, also gegeneinander stehen, so dass der Konflikt, die Konflikte nahezu unvermeidbar sind. Jedoch bedeutet dies nicht zwangsläufig, dass hier das Gute und das Böse in Widerstreit geraten. Es kann viel komplizierter werden: Widerstreitende Motive und Absichten können einfließen, es kann das Widersprüchliche dominieren. Im Übrigen gibt es in der Fantasy-Geschichte als Charaktere neben dem Protagonisten und Antagonisten auch zum Beispiel den Zweifler, den Wächter sowie die Figur, die humoristisch angelegt ist. Dr. Martin wies darauf hin, dass in der Fantasy-Geschichte Protagonist und Hauptcharakter nicht identisch sein müssen, es gibt eine Vielzahl von Variationsmöglichkeiten. Der Protagonist ist dem Grundsatz nach die Figur, die handlungsvorantreibend ist, wogegen der Leser durch den Hauptcharakter die Handlung betrachtet, die ihm durch diesen vermittelt wird.

Die Erschaffung der Welt

Dr. Schymiczeks Workshop war gekennzeichnet von der Herausforderung an den einzelnen Teilnehmer, sich die Welt vorzustellen, wie sie im Genre Fantasy eigenkreativ sein könnte. Es erwies sich schnell, dass die Teilnehmer kaum Erfahrung im Schreiben von Low Fantasy (Figuren und Charaktere im Mittelpunkt der Handlung), High Fantasy (umfassende Gesamtkonzepte mit Reichen, Imperien, Planeten, Staatengebilden als Schauplätzen) oder Contemporary Fantasy besaßen, den drei Subgenres der Fantasy, die Dr. Schymiczek zunächst erklärt hatte. Dies wurde keinesfalls als nachteilig angesehen, im Gegenteil: Jetzt konnte der individuelle Erfahrungshorizont im Schnelltempo erweitert werden!

Eingehend wurde im Workshop die Bedeutung des Schauplatzes für das Stattfinden von Fantasy-Handlungen erörtert. Dabei wurde klar, dass für die Dynamik einer jeden Geschichte der Ort, sei es ein ferner, fremder Planet oder etwa die Erde zu einem viel späteren Zeitpunkt – vielleicht nur ein bestimmtes Land in vorhistorischer Zeit mit erstaunlichen gesellschaftlichen Ausprägungen entscheidend sind; aber eben auch die Sprache, die konkrete Gesellschaftsform, das Volk mit dem typischen Erscheinungsbild der Menschen und vieles mehr. Die Teilnehmer konnten alsbald damit anfangen, je einen Anfang einer neuen Fantasy-Geschichte zu schreiben, was auf eine Mischung von Erstaunen und Schaffensfreude stieß, denn das war vorher nicht angekündigt wurden. Hier war die Fantasiebegabung offensichtlich besonders gefordert. Binnen weniger Minuten eifrigen literarischen Wirkens entstanden so diverse Anfänge. Diese wurden mit dem zweiten Sitznachbarn zur Rechten getauscht, der eine Fortsetzung zu schreiben hatte. Wenig später galt es, Anfänge und deren Fortsetzungen vorzulesen. Alle hatten viel Spaß dabei: Fortsetzungsgeschichten dieser Art führen zu Unerwartetem und Erstaunlichem. Niemand denkt so wie der weiter, der einen Anfang gemacht hat!

Weiteres

Ausflug nach Duisburg am zweiten Tag

Das Tagungshaus bot viele Möglichkeiten, viel Positives. Und unsere Tagungsorganisatoren aus NRW warteten mit Alternativen auf, die Freude, Entspannung und einfach Abwechslung verhießen. Es war die NRW-Kollegin Angelika Stephan, die den organisatorischen Ablauf eines dreistündigen Ausflugs am Nachmittag des zweiten Tagungstages sicherstellte. Im Bus ging es für einige AutorInnen in die Nachbarstadt Duisburg, um einiges Sehenswerte in City und Innenhafen kennenzulernen, der vor Jahren architektonisch und künstlerisch aufgewertet wurde. Kompetente ReiseführerInnen waren engagiert worden, um zwei Gruppen erklärend und erläuternd zu begleiten. Der Innenhafen ist heute einer der wichtigen Sightseeing Points Duisburgs.

Büchertisch und »Buchvorstellungen aus den Landesverbänden« am Abend des zweiten Tages

Wer wollte, konnte eigene Buchveröffentlichungen auf einem Büchertisch platzieren, um sie KollegInnen vorzustellen. Viele freuen sich ja immer wieder darauf, Bücher »aus der eigenen Schreibe« persönlich vorzustellen, aber eben auch aus eigenen oder favorisierten Büchern öffentlich vorzulesen. Natürlich bietet der FDA bundesweit, im Rahmen des Engagements der Landesverbände, einige Gelegenheiten, sprich offizielle Verbandslesungen oder andere Verbandsveranstaltungen mit Lesungen an. Letzteres galt für die Arbeitstagung in Mülheim/R. Neben den beiden Short Short-Lesungen, die großen Anklang fanden, ermöglichte man, dass bei den »Buchvorstellungen aus den Landesverbänden« vor der zweiten Runde der Short Short-Lesung am zweiten Abend der Tagung auch gelesen wurde. Zu späterer abendlicher Stunde stellte jeder Landesverband ein Buch vor, welches er vorher für diese Lesung landesintern ausgewählt hatte. In gemütlicher Atmosphäre wurde dann aus den Büchern gelesen und über Inhalte gesprochen.

Das Tagungsende am 6. Dezember 2015

Das Ende einer Arbeitstagung kann auch mit Gefühlen der Wehmut verbunden sein! So erfahren … Als ich, der »Heimschläfer« aus Solingen, Sonntags zum dritten und letzten Tagungstag eintraf, erwartete ich nicht mehr und nicht weniger als die Fortsetzung des erfolgreichen Gesamtkonzepts, ernst und unterhaltsam zugleich Wichtiges vermitteln zu bekommen, und dass weiterhin alle an den Angeboten engagiert mitwirken würden. So kam es dann auch. Die »Erschaffung der Welt« fand noch einmal statt – und »FantasMorgana«, die Arbeit mit Papier oder/und Stoff, mobilisierte nochmals gestalterische Potenziale bei Tagungsteilnehmern.

Eine Verlängerung der Arbeitstagung hätte sicher vielen Tagungsteilnehmern gefallen! An drei Tagungstagen konnten zahlreiche kollegiale Gespräche geführt werden, die oft so gar nicht hätten stattfinden können, da doch mancher aus einem fernen Teil Deutschlands angereist war. Bekanntschaften wurden gepflegt, neue Bindungen geknüpft. Die literarische Kommunikation triumphierte: während die Module der Workshops stattfanden, zwischen den einzelnen Terminen in Fluren und auf Gängen, natürlich während der gemeinsamen Essen oder in den verschiedensten Räumlichkeiten. Das literarisch-persönliche Miteinander während dieser Tagung bewies, dass viele AutorInnen keineswegs »Einzelkämpfer« sind, sondern gesellige, kreative Bürger, die in ihrem Gegenüber immer wieder gern einen Verbündeten erkennen, mit dem sie gleiche oder/und ähnliche Erfahrungen teilen.

Sonntag Mittag trafen sich alle noch einmal im großen Hengsbach-Raum der Wolfsburg. Die Vorsitzenden Dr. Luckas und Dr. Kullnick traten vor, um positiv über den Verlauf der Arbeitstagung zu resümieren. Eine originelle Kabaretteinlage mit Rosemarie Bühler und Uta Harst sorgte abschließend für geistreiche Unterhaltung. – Eine gelungene Arbeitstagung!

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