Lügen über meine Mutter oder Frauen von Gewicht
»Wie gefährlich das ist. Wenn ein Mensch alles sein soll.«
In Frankreich haben die Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux sowie Didier Eribon und Edouard Louis den Weg geebnet, den nun in Deutschland Autor:innen wie Christian Baron, Katja Oskamp oder Daniela Dröscher weitergehen. Auch sie binden, autofiktional und aus soziologischer Perspektive schreibend, eigene Erlebnisse mit kritischer Beobachtungsgabe an gesellschaftliche Entwicklungen an. Dabei arbeiten sie sehr hellsichtig heraus, dass alles mit allem zusammenhängt: Geschlechterrollen, ethnische Verortung, Herkunft und damit auch der lange erfolgreich verdrängte Begriff der Klasse. Das Memoir Zeige deine Klasse, der gedankliche Vorgänger dieses Romans, trägt seinen Titel also nicht umsonst.
Eine Kindheit im Hunsrück der 1980er-Jahre: Wohl dem, der jetzt noch Heimat hat. Die Heimat von Ela, sechsjähriges Alter Ego der Autorin, ist ein gebrochenes Idyll und damit dem filmischen Duktus von Edgar Reitz nicht unähnlich. Im Mittelpunkt dieses »Kammerspiels namens Familie« stehen als Platzhirsch in der roten Ecke der Vater und als überforderte Herausforderin in der blauen Ecke die Mutter. Eine Schwester gibt es auch noch, und die Zuschauer am Ring rekrutieren sich aus der Dorfgemeinschaft, dieser ubiquitären, mal erbarmungslos, mal indifferent agierenden Instanz sozialer Überwachung. Von ihr will der Vater anerkannt werden, dafür tut er alles und natürlich immer das Richtige, wenn nur die, in seinen Augen, übergewichtige Ehefrau nicht wäre.
DAS IDEALBILD MEINES VATERS: Vater, Mutter, Kind, allesamt schön und schlank. Schöne, schlanke gesunde Menschen, die in einem schönen Haus wohnen. In gewisser Hinsicht hat mein Vater meine Mutter zeitlebens mit einem Haus verwechselt. Nur dass man an einem Haus ungefragt Verschönerungen vornehmen kann, am Körper eines anderen Menschen nicht. Durch seine dicke Frau hatte mein Vater einen eigensinnigen und unschönen Fleck auf der – wieder sind wir beim Haus – ansonsten so makellosen Fassade. Der Körper meiner Mutter bedeutete Sichtbarkeit in einer Welt, die auf Unsichtbarkeit angelegt war. Nicht auffallen gehörte zu den tief verinnerlichten Geboten seines Herkunftsmilieus.
Deshalb zwingt er seine Frau unablässig dazu, Gewicht zu machen, wie man im Boxen sagt, abzukochen auf das von ihm geforderte Kampfgewicht. Und so unterwirft er sie, in schwer erträglicher und zu lesender Manier, einem regelrechten Disziplinierungsparcours – wir sind schließlich in den 80gern, dem Zeitalter des Weight-Watching. Das Ziel lautet: soziale Kontrolle des weiblichen Körpers. Hier trifft, schräg montiert, die Opferethik eines tradierten Mutterschaftsbegriffs auf die Opferethik des Faustkampfs: eine Frau ihrer Klasse ist immer auch eine Frau ihrer Gewichtsklasse.
Zuschreibung, Zuweisung, Zurechtweisung, so lautet die unheilige Trinität patriarchaler Anmaßung. In diesem Dreikampf ist der Vater nicht zu schlagen, bei allem anderen eher ungeschickt und glücklos. Ohne das Geld seiner Frau wäre er ein Johann Ohneland und in der Alltagsbewältigung, dazu zählt auch die Versorgung einer an Alzheimer erkrankten Großmutter, ist er dysfunktional:
Der gesamte Haushalt, vom Frühstück meiner Schwester bis zum Abendessen meiner Oma, funktionierte nur, wenn meine Mutter funktionierte.
Doch auch die Mutter ist ambivalent, kann nicht aus ihrer Haut. Sie lehnt sich zwar gegen die Zumutungen ihres Mannes auf, unter denen sie so leidet, dass sie chronisch krank wird, verinnerlicht aber gleichzeitig die Rollenstereotype der Zeit, die momentan ja leider partiell ein Comeback feiern.
In dem Universum meiner Mutter bilden Stolz und Arbeit eine untrennbare Einheit. Anderen nutzen, anderen gefallen. Daran bemisst sich der Wert ihrer Person. Als müsse sie mit ihrer unermüdlichen Arbeitskraft ihre Existenz rechtfertigen. Bis heute arbeitet sie bisweilen bis zur völligen Erschöpfung und darüber hinaus.“ Und hat damit ihre Gesundheit zerstört. Über die Zeit ist das Korsett aus Schmerz zu ihrer zweiten Haut geworden. Aus der sie sich kaum mehr herauslösen kann, als würde sie nicht wagen, Luft zu holen, aus Angst, mit ihrem Atem zugleich ihre Flucht aus der Freiheit zu spüren.
Obwohl sie ihre Tochter liebt, kann sie ihr diese Liebe nur selten wirklich zeigen, das Wechselspiel von Zuneigung und Zurückweisung lässt ihr Kind oft verunsichert und traurig zurück. Und so ist dieser starke und intensive Roman auch ein Versuch der Annäherung der beiden bemerkenswerten Frauen, die nun miteinander, auf Augenhöhe, um eine gemeinsame Ebene und so etwas wie Selbsterkenntnis ringen. Besonders beeindruckend ist für mich – in einem der letzten Zwischenkapitel, die den Erzählfluss faktual kommentieren, manchmal aber auch zuspitzen – das Resümee der Mutter:
Wenn ich jemals eine Autobiographie schreiben sollte, müsste sie den Titel »Zu« tragen. »Zu arm«, »zu krank«, »zu dick« oder »zu schwach«. Mein ganzes Leben lang ist immer irgendwas an mir zu wenig gewesen. Oder zu viel.
Daniela Dröscher: Lügen über meine Mutter. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2022. Gebundene Ausgabe, 448 Seiten, 24,00 €.
Neueste Kommentare