Die Möglichkeit einer Insel

Veröffentlicht von Dr. Manfred Luckas am 14. Februar 2018 in Rezensionen

Arno Geiger ist einer der großen deutschsprachigen Schriftsteller unserer Zeit. Groß nicht nur in Hinblick auf sein literarisches Können, sondern auch auf seine Perspektive, den Menschen als Maß aller Dinge zu sehen: in seiner Verletzlichkeit, seinem Kampf um Würde, seinem Schrecken und nicht zuletzt seiner Fähigkeit, gegen alle Widerstände zu lieben.

In Arno Geigers neuem Roman Unter der Drachenwand ist die Liebe das menschliche Movens in einer unmenschlichen Zeit. Die Liebe zwischen dem Soldaten Veit Kolbe und Margot aus Darmstadt, die 1944 im Ort Mondsee Wand an Wand im Haus einer bösartigen Nazi-Vermieterin wohnen. Veit kuriert seine an der Ostfront erlittenen Verletzungen aus und bekämpft seine Angstzustände und Depressionen wahlweise damit, Pervitin zu schlucken oder Tagebuch zu schreiben. Die »Reichsdeutsche« Margot ist mit ihrer kleinen Tochter, noch ein Säugling, vor den Schrecken des Krieges geflohen, die Liebe zu ihrem Mann, irgendwo an der Front, ist erloschen. In Mondsee im Salzkammergut, unter der Drachenwand, finden die beiden, inmitten des Weltenbrands, ihren Hortus conclusus und zueinander. Es ist ein fragiles, stetig bedrohtes Idyll, das sich, von Geiger behutsam beschrieben, erst langsam entwickelt, aber die Hoffnung in sich birgt, auch den Krieg zu überdauern.

Zwei, die für einige Zeit ihre Ruhe gefunden hatten, eine Ruhe, die nicht, wie so oft, mit Verlassenheit zu tun hatte, sondern mit Geborgenheit. In der Früh beim Kaffeetrinken, das Kind krabbelte am Boden, Margot saß am Tisch und hielt die Windeln des Kindes durch ständiges Stopfen am Leben, neue waren nicht zu bekommen, ein weiteres Zeichen dieser Glanzzeit. Ich lehnte am Fenster, wir redeten über Allfälliges. Mehr passierte nicht. Und ich weiß, es sind schon ereignisreichere Geschichten von der Liebe erzählt worden, und doch bestehe ich darauf, dass meine Geschichte eine der schönsten ist. Nimm es oder lass es.

Veit und Margot sind jedoch nicht die einzigen Romanfiguren, die lieben. Da ist zum Beispiel auch die junge Nanni Schaller, die in begeisterter Zuneigung zu ihrem Cousin entbrannt ist und eines Tages spurlos verschwindet. Oder die neben Ich-Erzähler Veit wichtigste Erzählstimme, Oskar Meyer. Der jüdische Zahntechniker, der mit seiner Familie aus Wien nach Budapest flüchtet, klammert sich bis zuletzt an das bunte Seidentuch seiner verschollenen Frau.

In Arno Geigers Roman Alles über Sally heißt es »Heute ist das Leben besser als sein Ruf«. Auch im aktuellen Buch stehen Sätze wie in den Fels der Drachenwand gemeißelt. Einer davon lautet »Im Grunde sind alle Menschen seltsam.« Menschen und Orte, möchte man hinzufügen. Schwarzindien zum Beispiel, eine Gegend, die wirklich existiert und im Roman ein Lager der Kinderlandverschickung benennt, in dem Mädchen wie Nanni untergebracht sind. Seltsam und exotisch mutet ebenfalls der »Brasilianer« an, der ein Gewächshaus betreibt, seinen Hund vegetarisch ernährt und Veit von der Schönheit und Intensität seiner südamerikanischen Erlebnisse erzählt. Auch das eine Insel der Möglichkeiten, eine Gegenwelt, die den Widrigkeiten des Krieges die Stirn bietet.

Der Krieg kommt bei Arno Geiger nicht gut weg und das ist auch gut so. Kein Platz für Heldengeschichten und Ostfrontmythen, eher im Sinne von Rilkes Requiem: »Wer spricht von Siegen? Überstehn ist alles.« Oder in den Worten von Veit: »Als Kind der Gedanke: Wenn ich groß bin. Heute der Gedanke: Wenn ich es überlebe. Was kann es Besseres geben, als am Leben zu bleiben?«

Krieg ist in der Drachenwand »das Wimmern, das Stöhnen, der Geruch der unzureichend versorgten Wunden, der verschmutzten Körper«, mithin die Essenz des Inhumanen.

Der Freie Deutsche Autorenverband (FDA) hat Arno Geiger auf der Leipziger Buchmesse 2017 mit dem Literaturpreis für Toleranz, Respekt und Humanität ausgezeichnet. Grundlage dieser Preisverleihung war der Roman Der alte König in seinem Exil, in dem der Autor die Demenzerkrankung seines Vaters ebenso versiert wie empathisch schreibend verdichtet. In Unter der Drachenwand gelingt ihm ein ähnliches Meisterstück, groß gedacht
und souverän erzählt. Der Vorarlberger wandelt damit nicht zuletzt auch auf den Spuren von Heinrich Böll und seiner Ästhetik des Humanen in der Literatur, in der es heißt: »Ein Autor sucht Ausdruck, er sucht Stil, und er hat mit dem schwierigen Geschäft zu tun, die Moral des Ausdrucks, des Stils und der Form mit der Moral des Mitgeteilten übereinzubringen.«

Arno Geiger: Unter der Drachenwand. Carl Hanser Verlag, München 2018 (480 Seiten, gebundene Ausgabe 26,00 €, Kindle Edition 19,99 €).

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