Gefühlte Kälte oder Stete Schrecken des Eises und der Finsternis

Veröffentlicht von Dr. Manfred Luckas am 24. Mai 2024 in Rezensionen

Als Szczepan Twardoch vor zwölf Jahren mit Morphin in den literarischen Ring stieg, war das ein Ereignis, war da ein vielschichtiges Buch voller Drama und erzählerischer Dynamik. Hier hatte sich eine neue, vitale und erfrischend furchtlose Stimme schreibend Gehör verschafft. Von Olaf Kühl für Rowohlt zupackend ins Deutsche übersetzt, fand sich dann hierzulande schnell eine begeisterte Leser:innenschaft. Nun erscheinen aus der Feder des polnischen Schlesiers – gut getaktet wie ein Metronom – alle zwei Jahr wuchtige Titel: Drach, Der Boxer (sehr stark!), Das Schwarze Königreich, Demut und aktuell Kälte.

Seit einiger Zeit verursacht die dräuende, dauerdüstere und ausufernd gewalttätige Diktion bei mir jedoch eine manifeste Twardoch-Fatigue, die sich bei der Lektüre von Kälte weiter chronifiziert. Denn mit der literarischen Anverwandlung des Tagebuchs von Konrad Widuch, einem ehemals glühenden Revolutionär, der in der Stalinzeit den Glauben an die Sowjetunion und an überhaupt alles verliert, bleibt sich der Autor zum wiederholten Male ermüdend treu:

Die Sterne an den Seiten leuchteten, so hell wie in unseren Herzen damals das Feuer der Revolution, bis der Schweinehund Stalin aus dem, was die paar Jahre vielleicht das Vaterland des Weltproletariats gewesen war, ein gemeines Russland machte, und das gemeine Russland war immer eine Bestie, ein Behemoth, der sich mit seinem schweren Leib in Eurasien breitmacht, unersättlich, gierig nach Menschenblut, und wo er hinkommt, wo sein Rieselleib sich reckt, da bleibt nichts.

Damit ist der Vektor vorgegeben und man ist wieder mittendrin im sattsam bekannten, ewigen Lebenskampf des Individuums mit der Natur, den feindlichen Systemen und dem Menschen, der dem Menschen ein Wolf ist. Widuch überlebt den Gulag und flieht mit der Russin Ljubow sowie dem verstümmelten Gabaidze, um schließlich von den Ljaudis gefunden zu werden, einem nomadisch lebenden Volk in der Taiga. Hier, so der Klappentext, »entdeckt Widuch ein fremdes Leben voll arktischer Exotik […]«. Diese Exotik kommt dann vor allem als drastische Abfolge zahlloser Gewaltexzesse im Kolportagestil daher. Vergleiche zwischen dem Autor und Quentin Tarantino sind schon mehrfach gezogen worden, aber die Cartoon-Gewalt Tarantinos nehme zumindest ich immer als ironisch wahr. Twardoch hingegen kapriziert sich plakativ und wenig nuanciert auf die darwinistische Feier des Fressens und gefressen Werdens.

Und danach erfolgte auch die Selektion der Welpen im Wurf: Die sich als Erste auf das gefrorene Seehundfleisch stürzen, werden genommen, was zaudert oder sich wegdrängen lässt, dem dreht ein Züchter gleich den Hals um und füttert die übrigen Welpen damit, denn auch Hundefleisch muss der Hund von Anfang an gern fressen, schließlich werden nicht selten die Schwächsten im Gespann an die Kräftigeren verfüttert.

Eingebettet ist die Exegese des Widuch-Tagebuchs in eine Rahmenhandlung, die ebenfalls nicht sonderlich überzeugt. Die Idee einer Segeltörn auf der Barentssee mit einer Frau namens Borghild Moen, über deren Identität schon bald kaum noch Zweifel bestehen, wirkt seltsam konstruiert und farblos. So bleibt in diesem Roman vieles Blendwerk, nicht nur die Suche nach einem mythischen Ort und dem Urvolk der Taiga.

Resümee: Schwer verdauliches, narratives Action Painting eines Autors, der sich mittlerweile zu ernst nimmt.
Szczepan Twardoch: Kälte. Übersetzt von Olaf Kühl. Gebundene Ausgabe, 432 Seiten, 26,00 €. Verlag Rowohlt Berlin, 2024.

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