Der Keim oder Zusammenbruch und Reue in Norwegen

Veröffentlicht von Dr. Manfred Luckas am 20. April 2023 in Rezensionen

Norwegen ist ein Literaturland. Henrik Ibsen und Knut Hamsun kennt fast jeder, Karl Ove Knausgård sowieso, bei der Literaturnobelpreisträgerin Sigrid Undset oder Autor Tarjei Vesaas sah es lange Zeit hingegen anders aus. Zumindest bei Vesaas gibt es mittlerweile untrügliche Zeichen der Hoffnung und verantwortlich dafür ist, wieder einmal, Deutschlands momentan interessantester Verleger: Sebastian Guggolz. Nach Das Eis-Schloss und Die Vögel hat nun auch endlich Der Keim, von Hinrich Schmidt-Henkel kongenial ins Deutsche übertragen, noch einmal das Licht der Welt erblickt.

Dieser psychologisch aufgeladene, ungeheuer intensive Roman über den wahnsinnigen Neuankömmling Andreas Vest – »Er war versehrt, ohne äußere Anzeichen, erfüllt von dieser rastlosen Suche nach Dingen, der er nie fand« – gewinnt seinen besonderen Reiz nicht zuletzt durch das Entstehungsjahr 1940. Es ist das Jahr der nazideutschen Okkupation Norwegens und der Topos des ebenso beunruhigenden wie verführerischen Eindringlings, der den Frieden einer Inselgemeinschaft brutal zerstört, legt eine politische Lesart nahe. Eine Lesart in einem lakonischen, pointierten Duktus, einer poetisch verknappten Prosa, die nicht alles bis ins Letzte auserzählt, vieles unausgesprochen in der Schwebe lässt, sich in einem literarisch versierten Wechselspiel von Andeutung und Auslassung gefällt. Der Keim ist ein Inselroman, allerdings keine Robinsonade, sondern ein Gesellschaftsroman, der, so formuliert es Michael Kumpfmüller im Nachwort, »die Frage verhandelt, ob und wie sich der größte anzunehmende Störfall – der gewaltsame Tod von zwei Menschen – zumindest so weit regulieren lässt, dass er das Zusammenleben der Beteiligten nicht für alle Zeiten ruiniert.«

Denn zumindest genauso schockierend wie die Ermordung Ingas durch den traumatisierten Täter Vest ist die kollektive Reaktion der Inselbewohner. Sie kulminiert in einer, von Ingas Bruder Rolv angeführten, Hetzjagd auf den Mörder, der am Ende erbarmungslos zur Strecke gebracht wird. Ganz normale Menschen lassen sich in diesem enthumanisierten, blinden Blutrausch mitreißen und laden selbst Schuld auf sich: Die Aussage »Ich habe nicht gewusst, dass ich so bin« zeigt allerdings schon unmittelbar nach der Tat die Selbsterkenntnis, falsch gehandelt zu haben, und bei einer Versammlung in der großen roten Scheune wird, ereignishaft und überraschend, etwas scheinbar Unmögliches möglich, nämlich »Buße zu tun, in aller Stille in sich zu gehen, zu ertragen, dass man schuldig geworden ist und rein niemand befugt oder in der Lage ist, einen zu erleichtern oder gar zu erlösen.«

Ausbrüche von Gewalt durchziehen den gesamten Roman in einer Eindrücklichkeit und kreatürlichen Wucht, die trifft und betroffen macht. So liest sich der Allkampf der Sauen auf Leben und Tod wie eine Version der Animal Farm und korrespondiert sprachgewaltig mit den menschlichen Unglücken im Buch:

Die Sauen bestanden durch und durch aus wilder Wut. Jegliche Art toter Ruhe war abgeschüttelt wie eine Maske – es erwies sich, dass sie nichts waren als gefährliche Energie und Kraft.

Zum Meisterwerk wird der Roman aber auch durch sein faszinierendes Figurenensemble. Eine Randexistenz wie Kari Nes, die, bibelfest und omnipräsent, als Mahnerin und »irrlichternde Engelsverrücktheit« ruhelos die Insel durchstreift, wirkt unvergesslich nach.

Tarjei Vesaas: Der Keim (OT: Kimen, 1940). Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel. Mit einem Nachwort von Michael Kumpfmüller. Guggolz Verlag, Berlin 2023. Gebunden, 231 Seiten, 24,00 €.

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