Gesichtsverlusterkennung oder Die Poesie der Neusser Landstraße

Veröffentlicht von Dr. Manfred Luckas am 5. März 2025 in Rezensionen

Volkmar Mühleis hier noch einmal vorzustellen hieße Eulen nach Athen tragen, ist der ebenso vielschichtige wie vielgesichtige Lyriker und Literat doch mittlerweile ein gern gesehener Gast in unseren Rezensionsgefilden. Nach den beiden Gedichtbänden Fête de la Musique und Das Recht des Schwächeren sowie der Novelle Wasserzeichen ist mit Gesichtsverlusterkennung nun sein viertes Buch im ATHENA-Verlag erschienen, der 1996 von Ralf Duscha in Oberhausen gegründet wurde. Im Zentrum des bemerkenswerten belletristischen Verlagsprogramms steht seit jeher die Veröffentlichung ambitionierter Lyrik in der Reihe edition exemplum.

Der Gesichtsverlust ist ein ebenso problematischer wie ubiquitärer Seinszustand, ihn als solchen zu erkennen und literarisch auszugestalten, erfordert existentielle Einsicht und harte Arbeit an sich selbst. Diese Tugenden manifestieren sich in der hier vorliegenden Publikation in 14 Kapiteln auf immer wieder überraschende Spielart und Weise, die die herkömmlichen Facetten des Lesens und Denkens munter unterläuft. Als Matrix dieser poetischen Spektralanalyse fungiert dabei nicht selten eine stimmige Mischung aus Referenzen an die Populärkultur und wortsinnigen Anklängen an die frankophonen Lebensumstände des Wahlbrüsselers, der sich aber auch in der Avenue Montaigne, Paris bestens auszukennen scheint:

Schon zu Lebzeiten für die Nachwelt / wohnte Marlene Dietrich unerkannt / für ihren eigenen Schatten / auf der Leinwand / am Fenster / ein Rückzug / in den Hades / mit Dienstboteneingang / für die Überfahrt

Neben dem Handwerk der beziehungsreichen Verdichtung beherrscht Mühleis auch den leichten Ton des impressionistischen Hintupftens, der in seinem atmosphärischen Erfassen des Augenblicks an Rolf Dieter Brinkmann erinnert – wie in dem Gedicht Le Premier Bonheur du jour, das einer Hommage an die wunderbare, im letzten Jahr verstorbene, Françoise Hardy gleichkommt:

Von der Kellnerin keine Spur / in der Küche nur / der Duft vom Vortag/ in verschlossenen Räumen / lief das Radio / das Fenster leicht geöffnet / hatten die Letzten ihr Schiff verlassen / in der Nacht / ich stand dort nach dem Regen / im ersten, warmen Licht

Das ist wahre Kunst, die in der titelgebenden Gesichtsverlusterkennung (und andere Fragen der Technik) auch als Langgedicht funktioniert und mit den Mitteln des Lyrischen in nuce die Geschichte von Daisy als unsentimentales Großstadtmärchen erzählt: »Das Gewissen auf Autopilot / stand sie an der Ampel und las.«

Neben Widmungen für andere Große der schreibenden Zunft wie Ernst Stadler, Jan Kuhlbrodt oder Nâzım Hikmet widmet Mühleis seine leidenschaftliche Beobachtungsgabe gerne Orten respektive Nicht-Orten wie der Neusser Landstraße an der Kölner Peripherie. Da finden sich dann »fossile Parkplatzmarkierungen, / Brandmale im Teer, wie glühendes Eisen auf Haut, / in der Sonne«, oder »Querwege für periphere Denker / zur Erholung, Weltverbesserung«, aber auch »ein Haus wie ein Verbindungsstück / die Augenbrauen wachsen einem gerade / beim Hinschauen« und »ein unscharfer Gerhard Richter-Blick auf Chorweiler, übers vorbeirasende Autoheck.« Stundenlang könnte man sich in diesen poetischen Kartographierungen des urbanen Raums mit Gewinn verlieren …

Resümee: Volkmar Mühleis ist ein sehr besonderer Lyriker, der seine dichterischen Mittel nicht zu kalkuliert einsetzt und so im besten Sinne unberechenbar bleibt.

Volkmar Mühleis: Gesichtsverlusterkennung. Gedichte. 113 Seiten, 17,90 €. ATHENA-Verlag, Oberhausen 2024.

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