Steine, Straßen, Städte oder Das Exil ist wie Beton

Veröffentlicht von Dr. Manfred Luckas am 15. Mai 2025 in Rezensionen

Die Akzente gehören zu den ältesten und profiliertesten Literaturzeitschriften hierzulande. 1953 von Walter Höllerer und Hans Bender gegründet, seit 1981 von Michael Krüger und seit 2015 von Jo Lendle herausgegeben, setzt seit Jahresbeginn der Dittrich Verlag – 2024 mit dem Deutschen Verlagspreis ausgezeichnet – neue Akzente im Literaturbetrieb. So wurden von Herausgeberin Marietta Thien Erscheinungsbild und Anmutung der dezent in die Jahre gekommenen Publikation beherzt entstaubt, wirken nun leichtfüßig, zugänglich, gegenwärtig. Zudem geht das erste Heft des Jahres 2025 auch thematisch und inhaltlich gleich in medias res und setzt vernehmlich Maßstäbe: EXIL – Steine, Straßen, Städte, ein ambitionierter, beziehungsreicher Titel, dem das, was dann auf den 100 lesenswerten, diskursfordernden Seiten folgt, in nichts nachsteht.

Das liegt ganz besonders an der von Annika Reich – engagierte Leiterin des Portals Weiter Schreiben für Literatur aus Kriegs- und Krisengebieten – und Mirjam Wittig mit sicherer Hand kuratierten Auswahl an Texten, die das Thema Exil multiperspektivisch auf den Punkt bringen. Hier zeichnen Exilautor:innen ihre eigenen, inneren Kartierungen nach: verlassene Seelenorte, verlorene Herzwege, Lebenslinien, die ins Nichts diffundieren. »Wenn Orte ihre Selbstverständlichkeit verlieren, hat das existenzielle Folgen«, heißt es im Editorial, und der syrische Autor Ahmad Katlesh pointiert diesen schmerzvollen Umstand in seinem Text Die Straßen in meinem Rücken, jedoch nicht, ohne dabei sich und seinen Leser:innen eine leise Ahnung auf Hoffnung einzuräumen:

Die Wege, auf denen ich lief, zogen mich groß. Resigniert trug ich sie auf meinem Rücken, wo sie alt wurden. Ich gehe durch mein Leben mit erhobenem Kopf und krummem Rücken. Ich rettete viele Straßen, indem ich sie mitnahm / Rettete sie vor Beschuss / vor neuen Besitzern / vor Wahlplakaten.

Die in dieser Anthologie versammelten Gedichte, Briefe, Tagebucheinträge und Prosatexte zeigen immer wieder eindrucksvoll den Dialog zwischen Vergangenheit und Jetztzeit, Verlust und neuer Orientierung auf, den die Autor:innen denkend, schreibend und fühlend mit sich führen. Und ob sie nun in Kabul, traurigste Stadt der Welt gelebt haben wie Mariam Meetra oder aus der Ukraine kommen wie Kateryna Mishchenko, ob aus dem Iran wie Asal Dardan oder aus dem Sudan wie Stella Gaitano: Die Erlebnisse und Erfahrungen weisen – bei aller Unterschiedlichkeit hinsichtlich der Verortung und Problemlagen – immer wieder Schnittmengen auf, die dem Themenkomplex Exil, Flucht, Vertreibung eingeschrieben sind, darunter manchmal einfach auch der nackte, mit brutaler Gewalt regierende Schrecken. So heißt es im Gedicht »Die Enge« von Yirgalem Fisseha Mebrahtu aus Eritrea, das ihrem 2023 erschienenen Gedichtband Ich bin am Leben entnommen ist:

Meine Zelle ist so groß wie ich. / Der Boden mein Bett. / Die Luft karg, spärlich die Wärme (als wäre sie Medizin). / Hier drinnen die Hölle, die Tür das Maul der Bestie. / Ich bin am Ende mit den Nerven, ich kann nicht mehr. / Wenn der Teufel mich nehmen wollte und davontragen, / ich würde nicht fragen, wohin.

Steine, Straßen, Städte: »Welche Farbe hat Beton?» Rabab Haidars Frage trifft genauso ins Mark wie die Einsicht von Nasta Mancewicz, Exil sei der »Schritt hinein in die Schwere«. Und trotz allem wohnt den meisten dieser Texte die Kraft inne, auf Zugehörigkeit zu hoffen, weiterzumachen, weiterzuschreiben, weiterzuleben …

Resümee: Das erste Heft der Akzente im neuen Gewand überzeugt mit einem klugen, vielstimmigen und exzellent kuratierten Beitrag zur aktuellen Diskussion des Themas Exil.

Akzente: Exil. Steine, Straßen, Städte. Herausgegeben von Marietta Thien, kuratiert von Annika Reich und Mirjam Wittig, 72. Jg. Heft 1, 120 Seiten, 12 €. Dittrich Verlag, Weilerswist, 2025.

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