Laudatio zur Verleihung des FDA-Literaturpreises 2017 an Arno Geiger

Veröffentlicht am 28. April 2017

Dr. Manfred Luckas:
Laudatio zur Verleihung des FDA-Literaturpreises 2017 für Toleranz, Respekt und Humanität an Arno Geiger

Sehr geehrte Damen und Herren, lieber Herr Geiger,

Heute ist das Leben besser als sein Ruf

Darin stimme ich Erik, einem der Helden aus Arno Geigers Roman Alles über Sally (Roman Hanser, München 2010) vorbehaltlos zu. Und das nicht etwa, weil ich gerade, wie Erik, einen feurigen Liebesmittag mit einer Sally oder sonst wem hinter mir habe, sondern weil ich vor Ort in einer Konstellation stehe, die mir kaum besser gefallen könnte: auf der Leipziger Buchmesse – die ja viel schöner ist als ihre größere und gröbere Schwester in Frankfurt – und mit Arno Geiger, einem meiner erklärten Lieblingsautoren, auf den ich – hic Rhodos hic salta – hier und jetzt eine kleine Festrede halten darf.

Laudationes sind eigentlich nicht mein Metier und die Gattung der Panegyrik ist mir bis heute dezent suspekt. Deshalb verbiete ich mir in den nächsten Minuten bezüglich Herrn Geiger auch Attribute wie »literarischer Titan der Titanen«. Aber der stillen Freude, die in mir glimmt, dass sich der FDA-Kandidat des Landesverbands NRW in einem bundesweiten Ausscheidungskampf durchgesetzt hat – nach Punkten und harter Gegenwehr würdiger Herausforderer – verleihe ich natürlich sehr gerne Ausdruck. Das wären mir ja Schöne Freunde (Roman Hanser, München 2002), die mir das vergönnen wollten.

2005 werde ich 40 Jahre alt und Arno Geiger-Fan. Ob das eine mit dem anderen etwas zu tun hat, weiß ich nicht. Aber ich weiß, dass ich mir nach Es geht uns gut – Familienroman? Antifamilienroman? Egal, einfach nur ein grandioses Buch – gedacht habe: Wieder so ein Kerl von Österreicher, der verdammt gut schreiben kann. Dazu eine biografische Parallele der besonderen Art: Zu jener Zeit beseelter Lektüre werde ich Opfer eines Wasserschadens. Zwei Handwerker erscheinen, nun ja, zu so etwas wie meiner Rettung, Real Life-Wiedergänger von Steinwald und Atamanov. Diese schrägen Helden des Konkreten, Ausmister taubenverseuchter Augiasställe, treten im Roman mit dem Protagonisten Philipp Erlach in einen subtilen Schlagabtausch. Mir geht es mit meinen handfesten Helfern ähnlich. Allerdings sitze ich nicht ständig auf der Schwelle des geerbten Hauses, dem Sinnbild eines existentiellen Dazwischen. Und eine so eindrückliche, stimmige und vitale Figurenzeichnung wäre mir ganz sicher auch nicht gelungen.

Überhaupt eine große Arno Geiger-Stärke das: Seine Protagonisten sind wahre Menschen, Charaktere, die leben, lieben und hassen, die glaubwürdig sind und vielschichtig. Steinwald und Atamanov, Alfred und Sally, Peter und Ingrid, aber bitte auch Anna nicht vergessen (Erzählungen Hanser, München 2007). Und last but not least natürlich Alma und Richard. König Richard I. Auch er geht ins Exil und damit dem alten König August dem Starken sechs Jahre voraus. Sechs Jahre darauf gespart … dazu kommen wir später noch.

Auch Richard aus Es geht uns gut geht es am Ende nicht mehr gut, »als würde ein selbstvernichtender Stachanov, unterstützt von mehreren kräftigen Gehilfen, in Richards Gedankengängen den Geist wegschaffen.« Übererfüllung des Plansolls beim Abbau der Ressource Erinnerung. Weihnachten lassen ihn die Kerzen am Baum befürchten, das Haus könne abbrennen. »Er umarmte den Feuerlöscher, den seine Frau Alma ihm gebracht hatte, stimmte die erste Strophe von Oh Tannenbaum an. Aber mittendrin brach er ab und wünschte sich, dies möge sein letztes Weihnachten sein. Anschließend sagte er: Komm, wir gehen weg von hier, das ist kein Ort für uns.«

»Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können.«

Ein schöner Aphorismus von Jean Paul, dessen Haltbarkeitsdatum allerdings wohl überschritten ist. Der Verlust der Erinnerung ist ein schmerzhaftes Thema des alten Königs in seinem Exil (Roman Hanser, München 2011), aber bei weitem nicht das einzige und auch nicht das zentrale. Arno Geigers autobiografische Erzählung, wie er sie selber nennt und die es hier zu preisen gilt, hat so viel mehr zu bieten. Sie ist nicht zuletzt »eine Liebeserklärung an den Vater, vor allem aber ein großes Stück Literatur.« Das sehe ich genauso, und deshalb darf ich Felicitas von Lovenberg an dieser Stelle auch beherzt zitieren.

Und wie jedes große Stück Literatur manifestiert sich die Größe gleich zu Beginn, führt den Leser inhaltlich in medias res, gibt den lakonischen Duktus vor, die Schärfe der Beobachtung und die Pointiertheit der Aussage.

»Als ich sechs Jahre alt war, hörte mein Großvater auf, mich zu erkennen. Er wohnte im Nachbarhaus unterhalb unseres Hauses, und weil ich seinen Obstgarten als Abkürzung auf dem Weg zur Schule benutzte, warf er mir gelegentlich ein Scheit Holz hinterher, ich hätte in seinen Feldern nichts verloren. Manchmal jedoch freute ihn mein Anblick, er kam auf mich zu und nannte mich Helmut. Das war ebenfalls nichts, womit ich etwas anfangen konnte. Der Großvater starb. Ich vergaß diese Erlebnisse – bis die Krankheit bei meinem Vater losging.«

Mein Großvater ging, als ich fünfjährig im Sand auf dem großen schwäbischen Hof spielte, mit der Reitpeitsche auf mich los und titulierte mich »Saubur«. Meine Mutter warf sich dazwischen. Ich vergaß diese Erlebnisse – bis die Krankheit bei meiner Mutter losging.

Lektüre ist immer subjektiv, die eigenen Bezüge evident. Natürlich kann man die Krankheit als biografischen basso continuo nicht ausblenden. Hölle ist, die Menschen, die man liebt, leiden zu sehen. In den Händen eines Schriftstellers wie Arno Geiger – geboren in Bregenz, aufgewachsen in Wolfurt/Vorarlberg, literarisch ein Weltbürger – transzendiert sich das Stoffliche, entstehen Bedeutung und Erkenntnis. Anlässlich der Verleihung des Friedrich Hölderlin-Preises 2011 drückt es Arno Geiger so aus: »Gegenstand guter Literatur ist für mich das Ideale unter dem Gesichtspunkt, wie traurig es dahinter ausschaut. Der Blick hinter das Ideale ist die unentbehrliche Indiskretion, der sich jeder Schriftsteller und jede Schriftstellerin schuldig macht beim Versuch, die menschliche Existenz auszuleuchten.« (Grenzgehen: drei Reden, Hanser München 2011).

Keine Entblößung also, keine öffentliche Zurschaustellung, sondern Indiskretion als notwendiger literarischer Modus operandi. Dem eigenen Vater gegenüber immer in behutsamer und respektvoller Manier. Da wird der demenzkranke Vater eben nicht, wie es in einer fehlgeleiteten Rezension zu lesen war, zum Material gemacht, sondern da begegnen sich zwei auf Augenhöhe, mit Wärme und Sympathie. So ist ein zutiefst humanes Buch entstanden über den Menschen August Geiger in seiner Gesamtheit: den Russlandheimkehrer, den Gemeindebeamten, den Ehemann und Vater, einen Mann, der ein langes Leben geführt hat und am Ende eben krank geworden ist.

Für Arno Geiger ist der Mensch das Maß aller Dinge und deshalb hält er sich nicht mit Kleinigkeiten auf. Seine Themen sind die großen: Liebe, Alter, Tod, menschliche Beziehungen in all ihren Facetten und Untiefen. Immer ergreift er dabei Partei für das Leben und plädiert für Toleranz, auch im Umgang mit seinem Vater findet er einen Modus vivendi, der Glück möglich werden lässt. Das schafft nur einer, der einfühlsam aufs Ganze geht.

»Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.«

Dieser Satz aus dem Tractatus von Ludwig Wittgenstein – mein Gott, schon wieder ein Österreicher – hat mich immer beschäftigt und durch die Lektüre von Arno Geigers großem Wurf noch einmal an Tiefgang gewonnen. Denn für den Umstand, dass sich die Grenzen der Sprache in verschiedene Richtungen verschieben und dabei mit der Poesie in Berührung kommen können, ist der alte König ein beredtes Beispiel. Nicht nur für mich ist die Sprache des August Geiger die heimliche Heldin dieses Buches.

»Da mein Vater nicht mehr über die Brücke in meine Welt gelangen kann, muss ich hinüber zu ihm. Dort drüben, innerhalb der Grenzen seiner eigenen Verfassung, ist er noch immer ein beachtlicher Mensch, und wenn auch nach allgemeinen Maßstäben nicht immer ganz vernünftig, so doch irgendwie brillant. Eine Katze streift durch den Garten. Der Vater sagt: ›Früher hatte ich auch Katzen, nicht gerade für mich allein, aber als Teilhaber.‹ Und einmal, als ich ihn fragte, wie es ihm gehe, antwortet er: ›Es geschehen keine Wunder, aber Zeichen.‹ Und dann ansatzlose Sätze, so unwahrscheinlich und schwebend, wie sie einem manchmal in Träumen kommen: ›Das Leben ist ohne Probleme auch nicht leichter.‹ ›Witz und Weisheit des August Geiger.‹ – ›Oft ist es, als wisse er nichts und verstehe alles.‹«

Aber dann auch diese Beobachtung:

»Schade nur, dass die Sprache langsam aus ihm heraussickert, dass auch die Sätze, bei denen einem vor Staunen die Luft wegbleibt, immer seltener werden. Was da alles verlorengeht, das berührt mich. Es ist, als würde ich dem Vater in Zeitlupe beim Verbluten zusehen. Das Leben sickert Tropfen für Tropfen aus ihm heraus. Die Persönlichkeit sickert Tropfen für Tropfen aus der Person heraus.«

Trotzdem obsiegt für mich am Ende ein positives Bild: das literarisch verdichtete, mit Gelassenheit und Souveränität gezeichnete Porträt eines Vaters, eines Helden, eines Königs, dessen »unauslotbare Fähigkeit, fröhlich zu sein und zu lachen und rasch Freundschaften zu schließen« mich immer wieder tief beeindruckt. Charakter ist schließlich ein Fels, an dem gestrandete Schiffer landen und anstürmende scheitern.

Lieber Arno Geiger, Sie haben sich mit diesem Buch Zeit gelassen, viel emotionale Substanz und schriftstellerischen Schliff investiert, »sechs Jahre darauf gespart«. Es hat, wie Sie am Ende des alten Königs im Exil formulieren, »lange gedauert, etwas herauszufinden über die grundlegenden Dinge, die uns getrieben haben, die Menschen zu werden, die wir sind.«

Der FDA Literaturpreis steht für Toleranz, Respekt und Humanität. Einen besseren Preisträger als Sie kann ich mir nicht vorstellen. Ich gratuliere Ihnen noch einmal herzlichst zu dieser Auszeichnung und auch uns als Freiem Deutschen Autorenverband dazu, dass wir Sie nun in unseren Reihen wissen dürfen.

Heute ist das Leben definitiv besser als sein Ruf. Vielen Dank!

Dr. Manfred Luckas

Photos © Marlies Strübbe-Tewes

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