Auslaufmodell Anthropozän oder Kanarien und Kipppunkte

Veröffentlicht von Dr. Manfred Luckas am 29. September 2023 in Rezensionen

Der Berliner Verbrecher Verlag begeistert schon seit langem durch sein vielseitiges und ambitioniertes Programm am Puls aktueller Fragen zu Politik, Gesellschaft und Popkultur. In diesen Kontext fügt sich die Buchreihe WORTMELDUNGEN auf das Beste ein, gelingt es ihr doch, zahlreiche komplexe Diskurse der Gegenwart essayistisch zusammenzuführen und verständlich zu machen, ohne zwanghaft zu simplifizieren. Dafür stehen in den letzten Jahren prominente Autorinnen wie Kathrin Röggla mit Bauernkriegspanorama, Marion Poschmann mit Laubwerk oder Volha Hapeyeva mit Die Verteidigung der Poesie in Zeiten dauernden Exils. Daran schließt nun Judith Schalansky an, die in diesem Jahr für ihren exzellenten Essay »Schwankende Kanarien« mit dem WORTMELDUNGEN Ulrike Crespo Literaturpreis für kritische Kurztexte ausgezeichnet wurde. Definitiv eine gute Wahl, denn auch ihre bisherigen Bücher, darunter der Atlas der abgelegenen Inseln (2009) oder das Verzeichnis einiger Verluste (2018), gehen in puncto Inhalt, Diktion und Duktus dem Thema der Ausschreibung schon voran. Dies gilt ebenso für die Tatsache, dass sie seit 2013 im Verlag Matthes & Seitz die inspirierende Reihe Naturkunden herausgibt.

»Eine Geschichte erzählen, die zählt« – nichts anderes ist die Sehnsucht dieses Textes. Eine Geschichte, die zählt: das zielt nicht auf Geltung, nicht auf Sendungsbewusstsein, nicht auf »Relevanz«. Das alles lag und liegt Judith Schalanskys Prosa stets fern. »Zu zählen«, das bedeutet im Licht ihrer Poetik vielmehr: sich mit den Dingen verbinden, mit den kleinsten noch, das Verschwinden aufzuhalten (nicht nur das eigene), in der Sprache all das zu retten, was vergeht, was verbraucht und vernichtet wird. Nicht zuletzt und hier zuerst: die Tiere.

Philipp Theison pointiert in seiner Laudatio auf die Preisträgerin gekonnt wie die Autorin selbst, die nicht viel Worte braucht, um viel zu sagen – obwohl oder gerade weil es um so viel geht. Manchmal ist auch einfach nichts mehr zu sagen, versagt die Sprache vor dem Unsäglichen, dem Unfassbaren, das der Mensch in seiner Hybris Fauna, Flora und Welt unentwegt antut – als ein Stichwort, leider unter vielen, das Fischsterben in der Oder: »Ich hatte keine Worte, die tausend Tonnen tote Fische fassen konnten, Tiere, die schon zu Lebzeiten wie keine anderen als stumm gelten.« Das Verstummen des Kanarienvogels als Frühwarnsystem, um Bergarbeiter vor dem Abfallen des Sauerstoffgehalts in den Minen zu warnen, ist es dann auch, dass diesem Essay Titel und Leitmotiv leiht. The canary in the coal mine ist dabei ein ebenso enigmatisches wie erratisches Bild, das über die Metapher weit hinausgeht: ein “Bird of Colour” im staubigen Steingrau der Bergwerke, erst gezüchtet zu menschlicher Zerstreuung, dann im Schacht versklavt zu sonnenloser Existenz, bis er von der Stange fällt, ihm keiner mehr die Stange hält: I can’t breathe. Als Detektoren des Desasters, durch den Domestizierungsparcours des Homo Sapiens (?) denaturiert, dient ihre eigene Ausbeutung wiederum der Ausbeutung der Bodenschätze: Tauschzynismen des Kapitalismus, Dilemma des Anthropozäns.

Ein Begriff, der geprägt wurde, um die weltbeherrschende Hauptrolle der eigenen Spezies im Schauspiel des irdischen Lebens zu benennen und damit zugleich das räuberische Wirken der Industriegesellschaften als menschliche Natur festzuschreiben.

Judith Schalansky macht unmissverständlich klar, dass wir den point of no return schon längst erreicht haben, dass die Kipppunkte der Kanarienvögel, dieser »Miniaturkassandras« und »gefiederten Orakel«, ganz konkret die unsrigen sind und mitten in der Wirklichkeit stehen. Es sind nicht die Peripetien des antiken Dramas, »nichts Lösendes, Erlösendes, zumindest keine Erlösung für den Menschen, vielleicht eine Erlösung vom Menschen.«

Schalansky macht ebenfalls unmissverständlich klar, dass die Krise des Anthropozäns auch eine Krise des Erzählens ist. Endzeitnarrative und die inszenierte Angstlust an der Apokalypse bringen die Welt nicht weiter, provozieren vielmehr, bei aller Erschöpfung, die uns manchmal befällt, die Invektive, die Gegenrede, den Widerstand, das Trotzdem wie in Albert Camus‘ Die Pest. Das ist harte Arbeit.

Zum Abschluss noch einmal ein Zitat aus der Laudatio:

Es versteht sich von selbst, dass dieses Zählen ein mühseliges Erzählen ist. Es kennt keine Manöver, keine Helden, keinen plötzlichen Umschlag. Es lebt von den Anfängen ohne Ende, vom Scheitern, vom Drama des Verlustes und vom Nichtverstehen; von der Anhäufung des Zusammenhangslosen – und von der Anerkennung unseres eigenen Geworfenseins.

Resümee: Judith Schalansky gelingt es, engagiert, empathisch und erkenntnisreich, »eine Geschichte zu erzählen, die zählt«.
Schwankende Kanarien. Wortmeldungen 4. Verbrecher Verlag, Berlin 2023. Hardcover, 70 Seiten, 14 €.

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