Straße um Straße oder Ich, der Dichter, verschlinge die Welt mit meinen Händen
Denk ich an Chile in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf gebracht. Das gilt nicht nur für Salvador Allende und die Schrecken der Diktatur, sondern auch für die von der parasitenpresse veröffentlichten Gedichte Pablo Jofrés, deren irrlichternde Intensität niemanden unberührt lassen kann. Dazu schreibt sein Landsmann Julio Espinosa Guerra:
Jofré versteht den poetischen Akt als eine Reise […] Gonzalo Millán, Enrique Lihn, Olga Orozco, Diego Maquieira, Pablo de Rokha, Konstantinos Kavafis besetzen Räume, die von Pablo Jofrés eigener poppiger, queerer, chamäleonhafter Stimme verwandelt werden. Sie hinterlässt uns in ihrer Übertragung eine multiple, aber auch tragische und farbenfrohe Literatur.
Pablo Jofré, geboren1974 in Santiago de Chile, lebt als Autor und Übersetzer in Berlin und Madrid, ist in seiner Eigenschaft als poetischer Seismograf immer der großen Stadt auf der Spur. In deutscher Übersetzung sind bislang die Bände Abecedar (2017) und Berlin – Manila (2021) in der parasitenpresse erschienen. Nun also, mit Straße um Straße, seine gesammelten Gedichte, die vier Gedichtbände und ein Lyrikheft umfassen. Entstanden sind die Texte zwischen Barcelona und Berlin, geschrieben wurden sie seit 2006 und publiziert zwischen 2009 und 2020. Die Leser:innen können dieser Weltumrundung eines globalen Poeten nun Schritt für Schritt habhaft werden und dabei die allmähliche Verfertigung welthaltiger Literatur beim gedanklichen Reisen mitverfolgen. Für die Übersetzung zeichnet – in der bewährten Manier des Kölner Verlags, die zu seinem Markenzeichen geworden ist – wieder ein Kollektiv verantwortlich, das diesmal aus Barbara Buxbaum, Johanna Menziger, Léonce W. Lupette und Odile Kennel besteht.
Und das schleift die Worte Jofrés im Deutschen zu funkelnden Diamanten, so paradoxal dunkel und düster wie »der eiskalte Schatten an einem sonnigen Tag« oder wie »die kalte Kachel im Gesicht.« Inmitten der überhitzten Urbanität ein Kult der Kälte, ein Modus, sich den Schrecken, bedrohlich und todtraurig wie Trakls »Sterbeklänge von Metall und ein weißes Tier bricht nieder«, schreibend zurechtzubiegen. Überall Monster, aus Angst geboren: la vida es una ilusión. Ob der Dichter wohl Camarón de La Isla hört in solchen Momenten morbider Klarsicht?
Als queerer Flaneur flext sich Jofré ein mythomanisches Mosaik aus diversen Empfindungen, feiert das säkulare Hochamt der Großstadt, denn »Streunen ist sich im Urbanen verlieren, ist […] Krankenwagen mit Möwen verwechseln.« Sehnsuchtsstädte sind Casablanca, versklavt durch die Verschwendung und Odessa mon amour, und er erzählt von Moskau, wo man sich bekreuzigt vor dem Betreten des Darkrooms. Das ist sinnliches Sinnieren über das Begehren und die Liebe, die am Morgen geboren wird und in der Nacht stirbt: »Der Kuss ist ein frisch gezeugtes Tier.« Aber keine Rose ohne Dorn, kein Sexus ohne Melancholie: »Zahnlos durch all die Gewalt, altert mir die Heimat in meinen Händen.«
Vor uns liegt mithin also die Kosmologie eines wahrhaftigen Kosmopoliten, der nach seinen poetischen Weltwanderungen reicher in sich selbst zurückkehrt, ohne sich bereichert zu haben. Der aber zusehends auch als dichtende Markierung seiner Heimat wahrgenommen werden sollte, die mit Autoren wie Pablo Neruda, Roberto Bolaño oder auch El fantasista Hernán Rivera Letelier so reich an renommierten literarischen Referenzen ist.
Resümee: Sinnliche, vitale, vielstimmige Gedichte eines sprachmächtigen Streetfighters
der Poesie.
Pablo Jofré: Straße um Straße. Gesammelte Gedichte. 134 S., 15,00 €, parasitenpresse,
Köln/Leipzig 2023.
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