Ferdinand oder Die Trüffel in der Jules-Verne-Straße

Veröffentlicht von Dr. Manfred Luckas am 15. Juni 2024 in Rezensionen

Silke Weizel, 1971 in Karl-Marx-Stadt, heute Chemnitz, geboren, legt nach ihrem gelungenen lyrischen Debut zwischen menschen und dingen nun mit Mareike und die Himbeertrüffel einen ersten Roman nach. Eine erste, eher unliterarische Assoziation, die mich beim Lesen des Titels rücklings überfiel, war die an »Himbeereis zum Frühstück«, einen Song aus den späten 1970er-Jahren und damit auch ein Anklang an frühe Jugend und Fernsehabende mit den Eltern. Damals sang sich das Schlagerduo Hoffmann & Hoffmann träumend durch den Sommer und ja, besteht die große Leistung der Literatur nicht darin, Zusammenhänge zu erspüren, die man vorher so nicht wahrgenommen hat?

Der Sommer, die Liebe, Männer und Frauen, Irrungen und Wirrungen, Unordnung und späteres Leid, Gefühle in Zeiten des sogenannten Individualismus, in denen die Sehnsucht nach dem oder der anderen doch so wirkmächtig bleibt wie eh und je. Davon erzählt dieses pointiert geschriebene und sehr ansehnlich illustrierte Buch. Am Anfang steht hier aber nicht nur das Wort, sondern die Trennung Corinnas von Ferdinand:

Nun stehe ich also hier. Ich bin Ferdinand, sechsundvierzig Jahre alt, gutaussehend, erfolgreich, in eine wohlhabende Familie hineingeboren. Dr. Ferdinand Mühltroff. Mathematiker, Herausgeber der Vision PI und seit 21 Minuten wieder Single.

Diese(r) Single ist nicht aus Vinyl, sondern aus Fleisch und Blut, eine männliche Mischung aus Ratio und Empfindsamkeit, die im Zusammenspiel von Firma, Redaktion und Sophia, der guten Freundin für alle Fälle, im Normalfall erfolgreich funktioniert. Nun aber heißt es Herausfallen aus allen liebgewonnenen Gewohnheiten und zurück ins Elternhaus, ins alte Kinderzimmer und tief hineingeatmet in den schweren Geruch der alten Erinnerungen, den frühen Tod des Vaters, den damals seine ältere Schwester Friederike gefunden hat. Aber wo Gefahr ist, wächst ja bekanntlich auch das Rettende und das sind die Bücher. Ob Hölderlin darunter ist, lässt sich zwar nicht ergründen, aber Nietzsche, Zarathustra und die Figur des Seiltänzers spielen eine große Rolle vorwärts, die Ahnung einer Zukunft.

Fünf Kisten voll mit den Schätzen meiner Kindheit trage ich vom Handwagen nach oben in die erste Etage. Buch für Buch stelle ich sorgfältig in dieses Bücherregal. Die alten und die aktuellen Philosophen ganz oben. Gesammeltes zu Nietzsche.

There’s nothing Nietzsche couldn’t teach you: Lektüre, aufgeladen mit warmen, positiven Erinnerungen wie die an den Buchhändler Marcello, seinen väterlichen Freund aus frühen Tagen und an die wundersame Zweisamkeit von Büchern und Schokolade, den Geschwistern nicht nur im Geiste, sondern auch in der Sinnlichkeit.

Damit ist das Setting umrissen: Genuss und Carpe Diem, das olfaktorische Schwelgen, in der Nase »nur die leicht bittere Süße mit einem Hauch von Orange«. Dunkler Kakao und Orangensirup können also zu einer, wenn auch milden, Obsession werden. Und bald kommen dann auch die Menschen dazu, Menschen aus verschiedenen Generationen. Der Besuch der alten Dame Else Lauenhof zieht den ihrer Enkeltochter Mareike mit sich und damit nimmt alles seinen Lauf: schlüssig und stimmig und ohne Klischees erzählt. Am Ende wohnen Ferdinand, Else und Mareike zusammen in der Jules-Verne-Straße, dem Mittelpunkt der Erde also schon recht nahe. Oder wie Nietzsche in diesem Fall gesagt hätte: »Nur aus Liebe entstehen die tiefsten Einsichten.«

Resümee: Das ewige Weltenrätsel der Liebe unprätentiös und gekonnt in Worte gefasst. Mit Gewinn und Vergnügen zu lesen, Fortsetzung folgt …
Silke Weizel: Mareike und die Himbeertrüffel – Ferdinand. Roman, 155 Seiten, 12,– €. Engelsdorfer Verlag, Leipzig 2024.

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