Versteh einer die Deutschen oder Nietzsche ist überall
Der Sujet Verlag in Bremen ist, dank Gründer Madjid Mohit, seit nunmehr fast 30 Jahren eine Institution in der deutschen Literaturlandschaft. Der Verleger, der als politischer Flüchtling aus dem Iran kam, wurde für sein Engagement 2015 mit dem renommierten Hermann-Kesten-Preis des PEN und 2024 mit dem Deutschen Verlagspreis ausgezeichnet. Der Freiheit des Wortes verpflichtet, gibt er immer wieder Autorinnen und Autoren, die sonst nicht gehört würden, eine Stimme. Der Sujet Verlag zeichnet sich in seinem Programm vor allem durch das aus, was Mohit Luftwurzelliteratur nennt – in Abgrenzung zu dem seines Erachtens eher imitierenden und negativ konnotierten Begriff der Exilliteratur. Für ihn stehen eher die bereichernden Aspekte der Migration im Vordergrund, nicht der durch den Verlust geprägte, wehmütige Blick zurück in die Heimat. Luftwurzelliterat:innen leben nicht zwischen den Kulturen, sondern mit ihnen, inspirieren ihr Umfeld und schaffen neue Perspektiven.
Der 1986 in Afghanistan geborene Autor Taqi Akhlaqi passt mit seinem präzisen Blick auf die Welten, in denen er gerade lebt, genau in das Verlagsprofil von Sujet. 2018 erstmals mit Kurzgeschichten ins Deutsche übersetzt, ist er mit seinem Theaterstück Ohne Tee kann man nicht kämpfen mittlerweile auf mehreren deutschen Bühnen zu sehen. Nun also die Erzählung Versteh einer die Deutschen mit dem schönen Untertitel Vier Monate in Deutschland. Ein Abenteuer – souverän, zupackend und frisch aus dem Persischen übersetzt von Jutta Himmelreich, einer »Diplomatin im Dienste der Weltliteratur«.
Akhlaqi führte 2015 ein Arbeitsstipendium des Vereins Heinrich-Böll-Haus Langenbroich ins rheinische Düren. In seiner Erzählung gelingt ihm die Kunst, die tiefenscharfe Analyse deutscher Befindlichkeiten schonungslos und gleichzeitig humoristisch-empathisch zu betreiben. Wer sich darauf einlässt, wird mit dem Erkenntnisgewinn belohnt, eigene Bräuche, Alltagsriten und Denkweisen zu hinterfragen, »sich zu verfremden«, wie der Autor es nennt, und die eigene Gesellschaft mit anderen Augen zu sehen. Besondere Überraschungsmomente entstehen zum Beispiel immer wieder durch seine Überzeugung, alle Deutschen würden Friedrich Nietzsche kennen und könnten, auf der Straße angesprochen, aus dem Stegreif Zeilen aus Also sprach Zarathustra zitieren. Diese Fallhöhe hinsichtlich der Erwartungen an das temporäre Gastland manifestiert sich jedoch auch in konkreten alltäglichen Erfahrungen:
In Köln fand ich zwei Dinge faszinierend und verwunderlich. Zum einen den staunenswerten Bau des gigantischen Kölner Doms, zum anderen die unter dem Heinrich-Böll-Platz am Dom gelegene Konzerthalle der Kölner Philharmonie, zu deren Abschirmung überirdisch bei jedem Konzert das Wachpersonal Fußgänger bittet, den Platz nicht zu überqueren, sondern ihn zu umgehen, weil ihre Schritte die Akustik der Philharmonie stören.
Solche Zweifel an der makellosen deutschen Architektur und Technik beschleichen den Autor dann alsbald auch bei seinen Erlebnissen mit den Zügen und Bahnhöfen hierzulande. Und mit so vielen »Obdachlosen im Paradies« hat er im ach so reichen und sicheren Deutschland ebenfalls nicht gerechnet. Immer wieder ist er mit seinen Gedanken aber auch bei den Menschen, die er verloren hat, vermisst die intensiven Gespräche mit seinem Jugendfreund Ahmad, die großen Fragen, die sie damals umgetrieben haben: »Gibt es einen Gott? Gibt es eine Welt? Gibt es ein Ich, mich? Wie sollen wir sie beweisen?«
Resümee: Ironisch, pointiert und kritisch, aber nie verletzend, zeichnet Taqi Akhlaqi das Porträt der deutschen Gesellschaft mittels gut gesetzter Verfremdungseffekte.
Taqi Akhlaqi: Versteh einer die Deutschen. Erzählung, übersetzt von Jutta Himmelreich. 275 Seiten, 19,80 €. Sujet Verlag, Bremen 2024.
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