WHO is WITCH oder Die Reise nach Babylon
Ein fragmentarisches Ich tastet nach Zärtlichkeit im Brüchigen, sucht Verbindung zu Freund:innen, zu Orten, Idolen, anderen Spezies – und zu sich selbst. Prekäre Formen des Zusammenseins rücken ins Zentrum, die erschaffen und gleichzeitig in Frage gestellt werden. Gedichte, die Netze verteilter Verletzlichkeit bilden und an der Schwelle zu einem neuen Sprechen stehen.
Besser als auf dem Buchrücken des beeindruckenden Gedichtbands reise nach BABYlon von Jennifer de Negri kann man es nicht sagen und deshalb lasse ich es an dieser Stelle auch. Was gesagt werden muss, ist, dass es dem Kölner Verleger Adrian Kasnitz wieder einmal gelungen ist, in seiner parasitenpresse mit sicherer Hand ein lyrisches Kompendium zu veröffentlichen, das in seiner Diktion und seinem Duktus gegenwärtiger kaum sein könnte, ohne dabei auch nur im Ansatz mit zeitgeistiger Beliebigkeit zu langweilen. Im Gegenteil fesseln die Texte mit einem genuinen Spannungsreichtum, der sich aus dem gekonnten Ausspielen ernsthafter Absichten und humoristischer Befähigungen speist. Hier ist eine wahre Poeta doctus am Werk, die sich unbefangen stilsicher aus der Werkzeugkiste des urbanen Lebens und der präzisen Alltagsbeobachtung bedient, überformt durch profunde Theoriekenntnisse und – ebenso unverkrampft präsent wie unverhandelbar – die eigene, queer-feministische Positionierung.
kein nightmare on christopher street mehr, doch / tägliche seismische messung der mehrheitsmeinung / oslo, orlando oder schüsse aufs schwule museum
In dieser Publikation entwickelt de Negri ihre poetologische Verortung weiter, mit der sie in ihrem erster Lyrikband Triebe klimatischer Verhältnisse, erschienen 2021 im Sukultur Verlag, begonnen hat. So vielfältig, wie die Open-Mike-Finalistin und Co-Initiatorin der queer-feministischen Lesereihe [OHNE PRONOMEN] unterwegs ist, so spektral nähert sie sich nun auch ihren Themen, ihrem literarischen Material an. Die reise nach BABYlon stellt nämlich als Namensgeberin des Gedichtbands gleichzeitig auch seinen Mittelteil dar, fluide eingerahmt von WHO IS WITCH und dem ersten Teil VIELE FEELINGS. One moment in time: hier eine gedanklich gut gefilterte, emotionale Annäherung an Whitney Houston, eine auch von mir verehrte Ikone der Pop-Kultur. Das großartige Gedicht heißt schlicht Whitney:
du klemmst frottee / zwischen deine schenkel, saugst alles auf, jeden schwall, jeden ton / feuerzeuge flammen in euren händen / brennen auf fingerkuppen
– und später:
nach der performance wird sie adidas trainingshosen tragen / gelpads unter den augen / lyrik aus argentinien lesen / sie wird zwei spiegeleier braten / sich selbst zubereiten / in einer pfanne / mit butter
Im dritten Teil WHO IS WITCH dann ein thematischer Bruch, der aber nur scheinbar inkonsistent ist, vielmehr von der Dramaturgie einer inneren Logik folgt, stark gestaltet in der dokumentarisch anmutenden Literarisierung eines zeitgeschichtlichen Ereignisses. Die mündet dann schlagstark in einer Demontage der alten Bundesrepublik mit ihrer reaktionären, verlogenen, boulevardesk überzuckerten Frauenverachtung:
»Wenn Frauen nur Frauen lieben, kommt es oft zu einem Verbrechen« (Bild Zeitung, 2. Februar 1973)
die frauen: ihr name ist j u d y a n d e r s e n / ihr name ist m a r i o n i h n s
Resümee: Jennifer de Negri hat etwas zu sagen und weiß auch wie: gegenwärtige Lyrik auf gedanklich und sprachlich hohem Niveau, artistisch, aber nie prätentiös.
Jennifer de Negri: reise nach BABYlon. Gedichte. 70 Seiten, 12 €. parasitenpresse, Köln 2025.
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