Gemma Habibi oder Boxen im Dreivierteltakt
»Nichts ist heftiger als das«: Boxen ist Kampf, ist Tanz, wie bei Ali – float like a butterfly, sting like a bee – Boxen ist immer auch Musik. Ein Fighter, der keinen Rhythmus hat, ist keiner, einer, der ihn verliert, verliert den Kampf. Lorenz hat seinen letzten verloren, aber der fand nicht im Ring statt. Die Rechte kaputt, wer weiß, was die Zukunft bringt, aber Aufgeben ist keine Option, so lange du stehen kannst, wirst du kämpfen. Und deine Schlagserien weiter üben zu Klängen zwischen Salsa und Schlager. Das hat Trainer Simon, früher DDR, heute Wien, Berlin, Zürich, Lorenz beigebracht. Und als der alte Haudegen ganz am Ende des Romans Gemma Habibi Falcos »Junge Römer« summt, summt sein Schüler mit und trainiert im Geiste schon wieder durch den Schmerz hindurch seine Kombinationen. »Junge Römer tanzen anders als die anderen. Jab, Punch, abrollen. Linker Haken, Punch, linker Upper. Rechter Haken.«
Robert Prosser, Österreicher, Jahrgang 1983, schreibt in seiner Danksagung:
Boxen begleitet mich seit mehreren Jahren, von Manchester über Wien nach Tirol. Am Anfang stand die Idee zu erzählen, wie man zum Kämpfer, zur Kämpferin wird. Und wie man es bleibt, nicht nur im Ring, sondern auch außerhalb, im Alltag, im Denken, in der Kunst. Die Bedingungslosigkeit, die das Boxen verlangt, reicht über ein Gym hinaus und prägt einen Menschen mehr, als auf den ersten Blick möglich scheint.
Damit hat der Kosmopolit aus Tirol das Wesen des Faustkampfes erfasst, “the irreducible conciseness of boxing”, wie es der amerikanische Autor Wilfred Charles Heinz in seinem Roman The Professional nennt. Meisterhaft demonstriert Prosser das 2013 in seiner Erzählung »Switchhitter«, in der jedes Wort, jeder Schlag sitzt, der Ring als Bühne im Urban Jungle, volles Tempo über die Runden, kurz und schmerzhaft, atemlos, dreckig.
In Gemma Habibi – ein genialer Titel, der hybride Sound der Boxwelt, destilliert im Gym, Boxen als Lingua franca – sind wir nun in einem harten Zwölfrundenkampf. Hier gilt es, sich die Kräfte gut einzuteilen, damit einem zwischendurch nicht die Luft ausgeht. Das Boxen allein vermag einen Roman nämlich nicht über die literarische Distanz zu bringen. Und so nimmt sich Prosser zwischendurch immer wieder mal die dringend benötige Auszeit vom Boxen, schickt seine Protagonisten Lorenz und Elena von Wien in die Welt hinaus bis nach Ghana und holt Zain, genannt Z, von Syrien nach Wien. Das ist an sich eine glänzende Idee, es verleiht dem Buch Welthaltigkeit, stellt den autobiografisch inspirierten Weg zum Kämpfer, der sich selbst entdeckt – »mir wurde erst jetzt erstmals bewusst, einen Körper zu haben und diesen bis in die Haarspitzen auszufüllen« – in einen globalen und politischen Kontext.
Aber oft, wenn es in Gemma Habibi nicht direkt ums Boxen geht, wird der Ton etwas abgedimmter, das Geschriebene leidenschaftsloser, der Duktus deskriptiver. Glaubt der Autor zwischenzeitlich nicht mehr an den Sieg? Und die deutlich zu lange Ghana-Episode wartet mit Afrika-Klischees en masse auf. Spannend und gekonnt inszeniert ist hingegen von Beginn an die ambivalente Beziehung zwischen Lorenz und Elena, die einem »mit ihrem Grinsen die Kehle durchschnitt«. Dass die Liebe ein Hemd aus Feuer ist, zeigt sich dann am Ende des Romans stimmig und eindrucksvoll.
Aber fast immer, wenn es in Gemma Habibi ums Boxen geht, wird alles gut: »Du bist hungrig, und Hunger frisst alles und jeden.« Nur über Christine, die einzige Frau im Boxgym von Jo, in dem Lorenz trainiert, hätte man gerne mehr erfahren. Ansonsten treffen die Sätze und Einsichten Prossers mitten ins Herz des Faustkampfs, der ja vom Herz haben und Herz zeigen lebt, nicht nur im Mythos: »Ich werde mir dein Herz schnappen, werde über dich kommen wie ein Aztekenpriester.« Das ist ein starkes Bild. Oder in Kapitel drei, wenn der Klasseboxer Andi plötzlich realisiert, dass er im Kampf alleine ist und sein Selbstvertrauen verliert: »Blitzt im Ring diese Einsamkeit auf, wird man sie nicht mehr los.« Lesenswert sind auch die am französischen Soziologen Loic Wacquant geschulten Gedanken über das Boxgym als Ort des Egalitären. Getränkt von Schweiß, Blut, Schmerzen und Ambitionen, ist das Gym der große Gleichmacher für Männer, Frauen, Menschen jeglicher Herkunft – wenn sie bereit sind, sich dem harschen Regime des Faustkampfs zu unterwerfen.
»Nichts ist heftiger als das«, aber eben immer auch mehr: »Diese Bewegung genügt, um Variante 4 zu zünden, linker Körperhaken, linker Upper, rechter Kopfhaken, Schritt zur Seite, links rechts Gerade, Eurythmics, Sweet Dreams.«
Trotz einiger Lücken in der Deckung auf jeden Fall zu empfehlen.
Robert Prosser: Gemma Habibi. Ullstein fünf, Berlin 2019 (224 Seiten, gebundene Ausgabe 22,00 €, Kindle Edition 18,99 €).
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