»Kleist, Ethik und der Sinn des Lebens« – Vortrag zur Bundestagung des FDA im Kleist-Jahr 2011

Veröffentlicht von J. Martin am 27. September 2011 in Berichte aus dem Verband

Nachträglich angefertigte Audio/Videofassung meines Vortrags »Kleist, Ethik und der Sinn des Lesens«, gehalten bei den FDA-Kleist-Tagen 2011: Bundeskongreß des Freien Deutschen Autorenverbandes / Schutzverband Deutscher Schriftsteller e. V. in Frankfurt (Oder) & Słubice vom 16.–18. September 2011. Die in dieser Videofassung verwendeten Photos wurden von mir mit einer Olympus µ 850 SW in Frankfurt (Oder), Słubice, dem Collegium Polonicum in Słubice und speziell in der großartigen »Kleist-WG«, Große Oderstraße 26/27, in Frankfurt (Oder) gemacht.

Der Text, die verwendeten Bilder und das Video selbst von »Kleist, Ethik und der Sinn des Lesens« stehen unter der Creative Commons BY-NC-SA-Lizenz und können für nicht-kommerzielle Zwecke* frei verwendet und weitergegeben werden bei Nennung von Autor (J. Martin) und Quelle (betweendrafts.com).

Kleist, Ethik und der Sinn des Lesens
Prof. Dr. J. Martin

Ich hatte das Glück, Germanistik zunächst fast zur Gänze in Bonn studieren zu können, und anschließend Amerikanistik und Ältere Anglistik in Düsseldorf. In Düsseldorf, und dies wiederholte sich periodisch, veranstaltete die Germanistische Fakultät Vorträge und Diskussionen zu der Frage »Warum Germanistik?« mit Varianten wie »Was soll Germanistik heute?« oder »Germanistik und dann?« Aus meiner erlernten Perspektive, Literatur als eingebettet zu verstehen in den Gesamtzusammenhang aller Wissenschaften und in die Entwicklung von Individuum und Gesellschaft, ergab diese Frage keinen wahrnehmbaren Sinn.

Lassen Sie mich im Kleist-Jahr 2011 diese Frage sowohl als pars pro toto als auch als displacement — im Sinne von Verschiebung, ein Begriff, der im folgenden eine große Rolle spielen wird — ersetzen durch die Frage »Warum Kleist?«, »Was soll Kleist heute?«, »Kleist und dann?«, entlang von Beispielen aus Der Findling und Michael Kohlhaas. Um vorwegzunehmend eine Formulierung von William Gibson über Technologie zu adaptieren: Kleist ist kein quaderförmiges Objekt aus dem Buchladen oder von Amazon.com, das in unserem Bücherregal steht und uns in Mußestunden delektiert. Kleist — stellvertretend für Literatur — ist, was wir sind, was wir tun, und warum wir in dieser wahnwitzigen Welt leben mit einer Million Neuerscheinungen pro Jahr.

Zunächst aber möchte ich zwei Aspekte anreißen, die nicht speziell Kleist, sondern Literatur ganz allgemein betreffen. Eine, und vielleicht sogar die entscheidende Differenz zwischen Literatur und jedem anderen Medium besteht darin, daß unscheinbare Sätzchen wie »dachte sie« oder »dachte er« — bis hin zu inneren Monologen und eingeschränkt der Soliloquy — uns Gedanken von Menschen “live” mitverfolgen lassen. Kein anderes Medium kann das. Literatur importiert fremde Gedanken in unseren eigenen, ununterbrochenen Monolog mit uns selbst und konfrontiert uns mit kognitiven und emotionalen Ereignissen des »Anderen« — auch ein Begriff, der uns gleich beschäftigen wird. Damit komplementiert und bereichert Literatur ganz wesentlich unsere Fähigkeit zur »empathischen Imitation« mit unseren erst kürzlich entdeckten Spiegelneuronen. Literatur berührt hier die Schnittstelle zwischen Neurologie und Soziologie, zwischen evolvierter und gesellschaftlich konstruierter Ethik.

Zu den elementaren Voraussetzungen für ethisch verantwortliches Handeln, des weiteren, gehören das Erkennen des Anderen als »Anderer« sowie das Bewußtsein für die Konsequenzen, die aus Erfolg oder Mißerfolg dieses Erkenntnisakts erwachsen. Dieses »Andere« können wir als Philosophem verfolgen von Hegel über Levinas bis Spivak. Dabei gibt es zwei Hauptarten des Mißerfolgs: das Zuweisen von Anderssein als Negativabgrenzung, was uns hier allerdings nicht beschäftigen wird, und das Zuweisen von Identitäten, wo lediglich Ähnlichkeiten bestehen, als Projektion der eigenen Bedürfnisse und Befindlichkeiten auf den Anderen.

Katastrophale Mißdeutungen der zweiten Art sind oft bei Kleist zu finden und besonders in Der Findling. Die veritablen Blutbäder in dieser Novelle werden in Gang gesetzt und perpetuiert durch eine ununterbrochene Kette solcher Mißdeutungen von Ähnlichkeiten als Identitäten. Piachi mißdeutet Nicolo als Paolo, Elvira mißdeutet Colinos Portrait als Colino, Nicolo mißdeutet sich selbst als Piachi, um die Hauptverschiebungen zu nennen. Wie der amerikanische Literaturwissenschaftler J. Hillis Miller es ausdrückt: »Für Kleist hängt alles miteinander zusammen, aber in Form einer Kette konstruierter Ähnlichkeiten, deren unausweichliches Mißdeuten als Identitäten verheerende Folgen hat.« (Versions of Pygmalion 139, meine Übersetzung.) Was Kleist dabei ebenfalls inszeniert im Spannungsfeld von projizierten Ähnlichkeiten und adaptierten – oder adoptierten – Identitäten ist nicht zuletzt auch eine Frage der Literatur selbst, und von Kunst generell, als Imitation und Mimesis. In einer Bemerkung zu Kleists Essay »Über das Marionettentheater« schrieb der belgische Kritiker Paul de Man: »Vom Reflexionsmodell des Textes als Imitation sind wir fortgeschritten zur Frage des Lesens als Notwendigkeit, das Zeichen vom Bezeichneten zu unterscheiden und damit die Gewalt auf der Bühne von der Gewalt auf der Straße.« (The Rhetorics of Romanticism 279, meine Übersetzung.) Auch auf dieser medialen Metaebene haben solche Mißdeutungen, wie Kleist sie auf der Textebene inszeniert, katastrophale Folgen: dort, wo Ähnlichkeiten als Identitäten mißdeutet werden, wo mediale Gewalt nicht mehr verweist auf die Gewalt auf der Straße, sondern als mit ihr identisch mißdeutet wird, dort werden künstlerische Freiheit und Freiheit der Rede ethisch suspekt und fallen dieser Mißdeutung zum Opfer.

Eine weitere Form von Verschiebung mit ähnlich katastrophalen Folgen finden wir in Michael Kohlhaas. In einer eskalierenden Kette von Verschiebungen gelangen wir vom Privaten zum Universellen, von einem Paar Pferde zu einer neuen Weltordnung — eine “mad logic”, wie Miller es nennt, im Zuge derer ein spezifisches Recht zum Universalgesetz aufgebaut wird. (Was uns an etwas erinnern sollte, auf das ich gleich zurückkomme.) Dieses Universalgesetz wird von Kohlhaas schließlich über alle anderen Gesetze gestellt, mit katastrophalen und gewalttätigen Konsequenzen. Zu welchen, nicht zuletzt, auch das Scheitern der Proklamation der neuen Weltordnung gehört, gestützt auf dieses Universalgesetz. Proklamationen sind performative Akte, die nur unter bestimmten Voraussetzungen gelingen. (Denken Sie an Unabhängigkeitserklärungen oder den Trauungsakt.) Die notwendigen Voraussetzungen sind hier jedoch nicht gegeben: die neue Weltordnung, die Kohlhaas im Lützener Schloß ausruft, referenziert tatsächlich nicht auf das Universalgesetz, sondern — rückwärts entlang der Kette der eskalativen Verschiebungen — auf das Spezifische und Private, dessen Kontext in keinem Verhältnis steht zur Art und Tragweite des Proklamierten.

Und hier komme ich zu einem entscheidenden Punkt, warum Literatur — und Kleist als pars pro toto — Teil dessen ist, was wir sind, und Teil der Gesellschaft, die wir bilden. Ein Punkt, der auch eine andere Frage berührt, über die viel Tinte vergossen wurde: wie Geschichten über einzigartige und nicht verifizierbare Ereignisse universelle Aussagekraft haben können. Was eben bereits anklang, war natürlich das Universalgesetz aus den Kategorischen Imperativen von Kant, und hier möchte ich mich, in Verlängerung eines Gedankens von J. Hillis Miller, speziell auf die Version BA52 aus der Grundlegung der Metaphysik der Sitten beziehen: »Handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetze werden sollte.« Das ist, auf der Textebene, was Kohlhaas tut, aber auf der Metaebene ist es auch das, was Kleist mit der Novelle Michael Kohlhaas tut. Und natürlich ist es das, was Literatur generell tut. Lassen Sie mich den Satz noch einmal lesen und anders betonen: »Handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetze werden sollte.« Dieser »als ob«-Test ist, wie Miller es nennt, “a little fiction”, eine »kleine Fiktion«, ein »Miniaturroman« — der die Brücke schlägt zwischen dem Speziellen, zum Beispiel einer bestimmten Handlung, und dem universellen Gesetz, das sich daraus ableiten ließe. Und dieser »Miniaturroman« des als-ob findet seine Entsprechung in der Literatur, wo die Konsequenzen von etwas Einzigartigem, nicht Verifizierbarem durchgespielt werden in einer elaborierten Fiktion.

Auf diese Weise spielt Literatur eine nicht zu überschätzende Rolle in der Entwicklung unseres ethischen Unterbaus, persönlich und gesellschaftlich. Literatur versetzt uns in die Lage, den inneren Monolog des Anderen zu verfolgen. Literatur sensibilisiert für den Unterschied zwischen Imitation und Identität, Zeichen und Bezeichnetem, dem Selbst und dem Anderen — neben Kleists Findling zum Beispiel auch in Verarbeitungen des Pygmalionmotivs von Ovid über Balzac und Henry James bis zu Updike. Und Literatur verbindet das Einzigartige mit dem Universellen, wie ein brillant ausgestattetes Labor, in dem wir jede erdenkliche Ideenkultur ansetzen können, um zu testen, ob das Ergebnis heilsame oder toxische Wirkung hat.

Zum Abschluß ein Gedanke, der uns noch einmal zu Kohlhaas zurückführt. Es gibt moderne Philosophinnen und Philosophen, darunter etwa Judith Butler und Sam Harris, die die breite gesellschaftliche Akzeptanz sogenannter Kollateralschäden in Kriegen und Konflikten als Scheitern unseres ethischen Unterbaus ansehen. Würden wir Kollateralschäden so hinnehmen, wie wir es tun, wenn wir aufmerksam Michael Kohlhaas läsen? Gerade die eskalierenden Kollateralschäden in dieser Novelle machen uns darauf aufmerksam, daß mit Kohlhaas’ »Universalgesetz« etwas fundamental nicht in Ordnung ist. Zum ethischen Scheitern gehört hier auch, wie so oft, das Scheitern der Imaginationskraft. Wie Gayatri Spivak es über ihren damaligen Kommilitonen Paul Wolfowitz formulierte, U. S. Deputy Secretary of Defense unter George W. Bush und einer der Hauptarchitekten des Irak-Kriegs: »Wenn ich ihm im Fernsehen zuhörte in letzter Zeit, habe ich oft gedacht: hätte er ein gründliches Training im Lesen von Literatur bekommen und/oder eine Vorstellung davon, daß die Gegner Menschen sind, wäre seine Position zum Irak nicht so unerbittlich geworden.« (“Ethics and Politics in Tagore, Coetzee, and Certain Scenes of Teaching” 23, meine Übersetzung).

Aber natürlich kann Literatur bei all dem versagen, und wir alle kennen einen Kontext, in dem sie wahrhaft katastrophal daran scheiterte, empathische Imitation zu unterstützen und die Wahrnehmung des Anderen als Mensch auszubilden. Die Konsequenz daraus, und das wird besonders bei der Kleist-Lektüre deutlich, kann aber nicht sein, daß wir weniger lesen. Die Konsequenz kann nur sein, daß wir lernen, besser, aufmerksamer und präziser zu lesen.

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