Nordwasser oder Sehet den Menschen, das Tier

Veröffentlicht von Dr. Manfred Luckas am 15. Juni 2018 in Rezensionen

Er schnaubt einmal, streicht sich über den borstigen Kopf und rückt sich den Schritt zurecht. Er riecht an den Fingern, dann lutscht er langsam jeden einzelnen und leckt die letzten Reste ab, um auch wirklich alles für sein Geld bekommen zu haben.

Wer hofft, es ginge nach diesen ersten Sätzen des Romans Nordwasser entspannter weiter, dem seien gleich zu Beginn alle Illusionen genommen. Der schottische Autor Ian McGuire schickt seine Leserinnen und Leser auf den folgenden 350 Seiten nämlich auf eine literarische Tour de Force mit der impliziten Aufforderung, alle Hoffnung fahren zu lassen. Und Henry Drax, Harpunierer auf dem Walfänger Volunteer – eine schöne Ironie, denn wer ist kein Sklave, wie Herman Melville in Moby Dick schreibt – ist die Verkörperung all dessen. Er ist ein Caliban, wild, triebgesteuert, ohne Moral, eine antizivilisatorische Urgewalt, die sich durch diesen furiosen Roman tötet, als gäbe es kein Morgen. Sollte das Buch in den nächsten Jahren verfilmt werden, der Leonardo DiCaprio aus The Revenant drängte sich hier ebenso auf wie der Tom Hardy aus Taboo. Raimund Harmstorf steht ja leider nicht mehr zur Verfügung, aber genau der ist es, den man so oft vor sich sieht, wenn Henry Drax den Leser aus gewaltgetränkten Zeilen heraus anspringt: Harmstorf alias Wolf Larsen als cineastischer Wiedergänger des Seewolfs von Jack London. Auch so ein gewissenloser Kraftmensch auf einem Walfänger, aber mit der Gabe zur Reflexion. Wolf Larsen hat seinen Humphrey van Weyden – Kapitän versus Schriftsteller – während Henry Drax nur ein zwielichtiger Schiffsarzt die Stirne bietet. Der heißt Patrick Sumner, hat dem »perfiden Albion« in den blutigen Kolonialkriegen in Indien gedient und steht mit dem Opium auf vertrautem Fuß.

Dieser parallele Erzählstrang in Einschüben und Rückblenden ist ebenfalls nichts für schwache Nerven, rundet vielmehr das Bild von Männern Ende des 19. Jahrhunderts ab, die ihren Nihilismus auf den Schlachtfeldern der Welt ausagieren. Gewalt beginnt mit der Objektmachung, wie Christa Wolf sagt und diese Objekte sind wahlweise Menschen aus fernen Ländern, Frauen oder eben auch Tiere wie im Nordpolarmeer von Nordwasser. Bejagt und getötet wird einfach alles, was sich bewegt, von keiner Gnade beseelt, seien es Bären, Robben oder Wale – Mare Nostrum für das Vaterland und nicht zuletzt für den Profit. Wale werden getötet, zerstückelt, eingekocht zu Lampenöl, auf das das ewige Licht leuchte zur größeren Ehre Gottes. McGuire bleibt bei der Schilderung dieser Vorgänge, literarisch pointiert und stark, immer nah am Geschehen, das Existentielle ist kreatürlich, stinkt, blutet, schreit, ist nicht ins Metaphorische enthoben, wo sich der Mensch im Kampf gegen die Elemente beweist.

Der Wal wirkt wie eine versunkene Insel, ein körniger, vulkanischer Felsrücken, der aus den Wellen ragt. Otto schleudert das Eisen mit aller Kraft, es bohrt sich bis zum Vortau hinein, der Wal zuckt augenblicklich zusammen. Die vier Harpunierer stechen und stochern. Der Wal, der immer noch hoffnungslosen Widerstand leistet, stößt einen Blas heißen Dampf mit Blut und Rotz aus. Um ihn herum brodelt und schäumt das blutige Wasser.

Alles fließt hier, alles ist flüssig, oft körperflüssig: Blut, Urin, Sperma, Schweiß, Erbrochenes, Bier, aber auch Walrat, Teer und Robbenfett. Doch bei aller Drastik und einem Naturalismus, der dem Duktus des Buches gut zu Gesicht steht, schleift McGuire auch immer wieder sprachliche Rohdiamanten von sinistrer Schönheit.

Es ist dunkel und kalt, das Nordlicht breitet sich als peristaltische grüne und lila Bänder am Himmel aus, wie die lose aufgerollten Gedärme einer weit hergeholten, mythischen Bestie.

Und ja, natürlich birgt dieser Roman, der ein Thriller ist und noch viel mehr, der Assoziationen an Meisterwerke des Genres weckt – Der Seewolf, Moby Dick – und doch eine eigene Sprache findet, ein dunkles Geheimnis. Ist denn das Nordmeer nicht das maritime Herz der Finsternis?

Ob an Land oder auf dem Wasser, ob mit einem bestirnten Himmel und moralischen Gesetz oder ohne: Der Mensch bleibt ein großer Fasan auf der Welt und das einzig Sichere ist der Zweifel. Woran nach der Lektüre dieses Buches jedoch nicht zu zweifeln ist: Ian McGuire hat mit Nordwasser einen wuchtigen literarischen Akzent gesetzt, der nachhallen wird. Unbedingt zu empfehlen!

Ian McGuire: Nordwasser. mareverlag, Hamburg 2018 (352 Seiten, gebundene Ausgabe 22,00 €, Kindle Edition 17,99 €).

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