Wundersam war die Stadt

Veröffentlicht von Dr. Manfred Luckas am 9. Mai 2022 in Rezensionen

»Die Stadt brauchte man nicht zu hassen, nein, man musste sie erobern.«

Stepan, Dichter vom Dorf und Protagonist in Walerjan Pidmohylnyjs großem Roman Die Stadt, meint dies ebenso ambitioniert-naiv wie im übertragenen Sinne. Aber da es sich bei dieser Stadt um Kyjiw handelt – wenn auch Ende der 1920er-Jahre – fällt es gerade jetzt schwer, den Satz unbefangen zu lesen. Nicht nur das Schreiben eines Buches, auch seine Rezension und Rezeption sind ja Herz und Motor der literarischen Zeitmaschine. Und deren Räder standen bei dem Meisterwerk, das nicht nur zum Kernbestand der ukrainischen literarischen Moderne, sondern dem der Weltliteratur zählt, viel zu lange still.

Der Autor, 1901 im Donbas geboren, kam 1922 selbst nach Kyjiw, war dort Lehrer und Kulturredakteur, vollendete 1928 Die Stadt, konnte aber den verdienten Ruhm seiner Publikation nur kurz genießen. In den 1930er-Jahren war er nicht mehr in der Lage zu veröffentlichen, wurde inhaftiert, gefoltert und schließlich 1937 in einem Straflager auf den Solowezki-Inseln umgebracht. Damit zählt er zu den 1,5 Millionen Menschen, die binnen eines Jahres dem Großen Terror Stalins zum Opfer fielen und denen Karl Schlögel in Terror und Traum: Moskau 1937 ein Denkmal gesetzt hat.

Erst in der Perestroika wurden seine Werke wieder gedruckt, Rost haben sie, das gilt besonders für Die Stadt, nicht angesetzt. Im Gegenteil springt einen in jeder Zeile Modernität an. Eine Modernität, die doppelbödig daherkommt, existentialistisch, zersplittert in tausend Lüste und Sensationen, wie man sie aus den bekannten Großstadtromanen der Zeit, also z. B. Manhattan Transfer von John Dos Passos und natürlich Döblins Berlin Alexanderplatz, kennt. Pidmohylnyj stellt sich gleichberechtigt an ihre Seite, als Europäer, als Freund des Jazz, Kinoenthusiast und Übersetzer französischer Naturalisten, als Autor einer lebensgesättigten Prosa, die die sozialen und gesellschaftlichen Verwerfungen der Zeit erzählerisch zu pointieren vermag. Und der in der Lage ist, einen fesselnd-vielschichtigen, nicht allzu sympathischen, Protagonisten zu zeichnen, einen schon postmodernen Strategen voller Widersprüche, anmaßend, narzisstisch, größenwahnsinnig und voller Komplexe, mit einer »Seele wie eine hochempfindliche Festplatte für Momentaufnahmen«.

Die Metamorphose zum Städter bringt dabei eine ambivalente Sicht auf die neue Lebenswirklichkeit zu Tage. Mal ist sie Hort des gesellschaftlichen Fortschritts, eines progressiven Sozialismus im Geiste der Ukrainisierung, mal »ist in der Stadt alles unnatürlich«, sehnt er sich nach der Einfachheit des Landlebens zurück. Pidmohylnyj wollte die Stadt »der ukrainischen Psyche näherbringen«, doch mit seinem Werk – im Original Misto – hat er nicht nur einen Großstadt-, sondern einen Künstlerroman geschaffen. Vom Dorf in die Metropole, von der Peripherie ins Zentrum: das ist der mentale Vektor für das Werden des Parteiaktivisten Stepan Radtschenko zum Autor eines großen Romans.

Verleger Sebastian Guggolz hat sich durch die Reanimation des ukrainischen Klassikers verdient gemacht. Das gilt auch für das Übersetzer:innenkollektiv Alexander Kratochvil, Lukas Joura, Jakob Wunderwald und Lina Zalitok, das auf der »Wanderung durch das wilde Grenzland zwischen zwei Sprachen« (Andrzej Stasiuk) Biss, Schliff und Sprachkunst Pidmohylnyjs in ein nicht zu domestiziertes, sinnliches und versatiles Deutsch übertragen hat. An einer Stelle wird die wortreiche Langeweile eines literarischen Abends abwechselnd mit »Gequatsche«, »Geschwätz« und »Geschwafel« bezeichnet: wunderbar.

Walerjan Pidmohylnyj: Die Stadt. Aus dem Ukrainischen von Alexander Kratochvil, Lukas Joura, Jakob Wunderwald und Lina Zalitok. Guggolz Verlag, Berlin 2022 (420 Seiten, gebunden mit Lesebändchen 26 €).

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