Praga Obscura oder Es liegt ein Grauschleier über der Stadt
»Ich lebte in einem Vakuum und suchte Gleichgesinnte auf den leer gefegten Straßen des Sozialismus, Nacht für Nacht, damals in Prag.«
Mit diesen Worten blickt Josef Šnobl, gebürtiger Prager und Wahlkölner, in seinem leider letzten Buch auf eine 70er-Jahre-Jugend in der tschechischen Hauptstadt zurück. Die damaligen Verhältnisse schreien geradezu nach Auflehnung gegen den real delirierenden Sozialismus mit seinen Normierungszwängen. Doch der lebensfeindliche Konformismus des Systems reproduziert sich auch in den persönlichen und familiären Beziehungen. Beim erbitterten Schlagabtausch mit seinem Vater, der in ihm nur einen Automechaniker sieht, holt er sich oft eine blutige Nase. Sein Wunsch, einen eigenen Weg zu gehen, stößt auf völliges Unverständnis. Hier trifft sich der zukünftige Fotograf und Autor mit seinem großen Prager Vorgänger Franz Kafka, dem der Wunsch, auszubrechen, ja auch keinesfalls fremd war:
»Wenn man doch ein Indianer wäre, gleich bereit, und auf dem rennenden Pferde, schief in der Luft, immer wieder kurz erzitterte über dem zitternden Boden, bis man die Sporen ließ, denn es gab keine Sporen, bis man die Zügel wegwarf, denn es gab keine Zügel.«
Der Lebenshunger Šnobls, ein Destillat aus Wut, Verzweiflung und innerer Getriebenheit, äußert sich dann aber eher in zeitgemäßen Ausschweifungen, deren Beschreibungen gleichermaßen berühren und schockieren. Das gilt vor allem für die manifesten Drogenexzesse, die einem Hunter S. Thompson zur Ehre gereicht hätten. Dessen Statement »Manche fangen nie an zu leben, während die Verrückten niemals sterben« hätte Šnobl sicher anstandslos unterschrieben. Jedenfalls lernt man dabei so einiges über Selbsterfahrungen mit Triphenidyl in einer Psychiatrie, die eher an ein mildes Biotop für Misfits erinnert oder wie LSD die marode, morbide und monochrome Ostblock- Wirklichkeit schönfärbt.
Und über, unter und zwischen allem liegt – als Kommentar zur Lage des Landes wie zum Kampf gegen den existentiellen Grauschleier – die Musik: Josef hat den Blues, aber er kann auch härter. Er ist ein Koko Metaller mit dem Blick für den Beat des Lebens, ein Fotograf in Hell und sehr viel Dunkel, ein Tagebuchschreiber mit scharfem Fokus und ein Flaneur auf Speed. Bei einem Mann mit so vielen Talenten verwundert es kaum, dass er dann irgendwann, zusammen mit seiner Frau Helena und Töchterchen Bjela, auch noch zu einem Hüter der Tennisplätze wird. Als »Freaks in bunten Klamotten«, er mit »schulterlanger Matte«, agieren sie als Platzwarte für die »Tennis spielende sozialistische Elite« – auch das ein untrüglicher Beweis für die Existenz des subversiven tschechischen Humors und mein persönliches Lieblingskapitel im Buch.
An dem Manuskript für Praga Obscura hat der Autor bis kurz vor seinem Tode, letztes Jahr in Köln, gearbeitet. Das Projekt wurde von der Lektorin, Übersetzerin und Herausgeberin Antje Görnig im Sinne des Prager Rebel with a cause vollendet. Damit hat sich der Emons Verlag sehr um das Werk von Josef Šnobl verdient gemacht. Gut so, denn das ist wirklich keine leicht konsumierbare Lektüre, sondern eine oft düstere, sperrige und immer eigenwillige Introspektion der Conditio humana – und deshalb so wichtig und genauso zu empfehlen wie die 2019 erschienene Nachtfahrt.
Josef Šnobl: PRAGA OBSCURA. Erinnerungen an eine graue Stadt. Mit vielen S/W-Fotografien, hg. von Antje Görnig. Emons Verlag, Köln 2022 (208 Seiten, 25,00 €).
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