Spiel ohne Grenzen oder I’ve been looking for freedom
Die Neunziger Jahre enden am 11. September 2001. An ihrem Beginn fällt die Berliner Mauer, an ihrem Ende fallen zwei Türme in New York City. Am Anfang des Jahrzehnts glauben manche, dass die Geschichte nunmehr an ihr Ende gekommen ist. Am Ende des Jahrzehnts scheint die Geschichte einen neuen Anfang zu nehmen; vielleicht findet aber auch nur der Glaube sein Ende, dass es ein Ende der Geschichte geben könnte.
In gewohnt eleganter Manier formuliert Jens Balzer sein Resümee der 90er-Jahre, in denen sich der Freiheitsbegriff Schritt für Schritt von der anfänglichen Entfesselung hin zum Beginn all der identitären Zwänge und Festschreibungen bewegt, mit denen sich unsere Gesellschaften heute auseinanderzusetzen haben. Anhand seiner bestechenden Diagnose setzt der neue Doyen der deutschen Popkultur seine Introspektion der Kultur- und Mentalitätsgeschichte fort, die mit dem Entfesselten Jahrzehnt – Sound und Geist der 70er und seinem Nachfolger High Energy. Die Achtziger – das pulsierende Jahrzehnt begann. Immer wieder, so auch in der aktuellen Publikation, gelingt es ihm, die Signatur einer Epoche, mithin die Essenz der Zeit herauszuarbeiten und auf den Punkt zu bringen. Dass ihm dies angesichts des enzyklopädischen Charakters seines Projekts alles so leicht von der Hand geht, macht das besondere Leseerlebnis aus.
Als Autor und Phonograph schöpft er zudem aus einem schier unglaublichen popkulturellen Fundus, der vor allem in musikalischer Hinsicht kenntnisreicher kaum sein könnte. Im ersten Teil von No Limit mit dem Titel Alte Grenzen, neue Grenzen spannt er dabei zum Beispiel den Bogen von Techno über Nirvana und Rechts-Rock-Störkraft bis hin zu den Anfängen des deutschen Sprechgesangs als Spiegel der Einwanderungsgesellschaft. So textet 1992 das Heidelberger Hip-Hop-Ensemble Advanced Chemistry »Gehst du mal später zurück in deine Heimat? / Wohin? / Nach Heidelberg? Wo ich mein Heim hab?« Dass das Rödelheim Hartreim Projekt diese Zeilen dann kurze Zeit später in seinem Track Vision zitiert, zeigt, dass in den 90ern alles mit allem zusammenhängt, alles Zitat und Gegenzitat ist, Verweis und Referenz und damit – wie auch Balzer nicht müde wird zu betonen – wiederum auf den postmodernen Modus operandi schlechthin verweist: Die Vernetzung der Welt und das Spiel der Zeichen, also Teil III dieses Buches.
Balzer zitiert [sic!] in diesem Zusammenhang den alten Doyen der deutschen Popkultur, Diedrich Diederichsen, aus einem Text über die Simpsons: »Zu allem fällt uns eine andere Fernsehserie, ein anderes Kunstwerk, eine berühmte Kameraperspektive, ein angehalfterter Star, ein berühmter Satz sowie deren Verkehrungen, Verdichtungen, Verfremdungen etc. ein, und die Kette unserer Verknüpfungen nimmt kein Ende« – geschrieben übrigens 1999, also in der letzten Runde dieser zum Schluss hart umkämpften Dekade. Und die wirft dann, in eben diesem Jahr, mit David Finchers Fight Club und Matrix von den Wachowskis zwei visionäre Schwergewichte mit unterschiedlicher Akzentuierung in den Ring der cineastischen Postmoderne.
Vor allem Matrix markiert mit seiner innovativen digitalen Ästhetik, ein Jahr vor Google, einen Wendepunkt. Ganz im Sinne von Baudrillards Agonie des Realen mit der Welt als Simulacrum und den wilden Positionen von Derrida, Deleuze und Guattari, die „das Denken aus dem Gefängnis der Linearität und der Geschlossenheit befreien wollen“, zeigt der Film, dass der Hypertext, als massentaugliches Medium der Zukunft, auf den Theorien der literarischen und philosophischen Avantgarde basiert.
Weitere Erkenntnisse stellen sich in hohem Tempo mit furioser Schlagfrequenz ein, immer werden Konstellationen ihrer Zufälligkeit entkleidet und Zusammenhänge hergestellt zwischen Digitalisierung und Privatisierung, Neoliberalismus und Selbstoptimierung, Schwarzwaldklinik und Emergency Room, Techno und Tutti Frutti. Wie schon gesagt, alles hängt mit allem zusammen und Balzer bringt Struktur in die scheinbare 90er-Jahre- Beliebigkeit, die sich am Ende mit der Rückkehr der Religionen, der Nationalitäten und dem Clash of Civilizations à la Samuel Huntington ohnehin verhärtet. Bei dieser Lektüre kommt definitiv keine Tristesse Royale auf und das popkulturelle Quintett bekommt dann auch noch sein Fett weg.
Resümee: Die inspirierend-faszinierende Introspektion eines entgrenzten Jahrzehnts.
Jens Balzer: No Limit. Die Neunziger – das Jahrzehnt der Freiheit. Rowohlt Berlin-Verlag, Berlin 2023. Gebunden, 384 Seiten, 28,00 €.
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