Umarmung sommerlich oder Im Boot mit Byron auf der Museumsinsel

Veröffentlicht von Dr. Manfred Luckas am 21. September 2023 in Rezensionen

Für mich ist die parasitenpresse einer der interessantesten und innovativsten Verlage in Deutschland und jederzeit für eine überraschende Publikation jenseits des Mainstreams zu haben. Seit 2000 gibt der kleine, unabhängige Kölner Verlag deutschsprachige und internationale Prosa und Lyrik heraus und erhielt für seine literarischen Ambitionen 2021 den Deutschen Verlagspreis. In den letzten Jahren sind, unter mehr als 150 Einzeltiteln, zahlreiche deutschsprachige Debüts erschienen, von denen ihrerseits viele ausgezeichnet wurden. Zu nennen wären hier Werke von Autor:innen wie Kinga Tóth, Matthias Nawrat, Alexander Estis – gerade geehrt mit dem Kurt-Tucholsky-Preis für literarische Publizistik – und nicht zuletzt Adrian Kasnitz, dem engagierten Verleger der parasitenpresse.

Kasnitz, Jahrgang 1974, kann als Grenzgänger zwischen Lyrik und Prosa mittlerweile auf ein respektables literarisches Oeuvre zurückblicken. Der jüngste Gedichtband des polyvalenten Poeten, der seit 2019 im Team auch das Europäische Literaturfestival Köln-Kalk (ELK) kuratiert, trägt den Titel Im Sommer hatte ich eine Umarmung – »ich warne dich, es fühlte sich wie Wind an / es schmeckte leicht, was ich in den Mund nahm.«

Wunderschöne Wendungen wie diese sind es, flüchtig wie eine Meeresbrise und melancholisch wie das Venner Moor, die beim Lesen fesseln, die geprägt sind vom Wissen um den Verlust von Menschen, Heimat, Liebe, den vergangenen Tagen der Kindheit. Früher war nicht alles besser und auch heute ist nicht alles so, wie es sein soll: »in kleinen Wellen / kommen die Nachrichten, gute / sind nicht dabei« oder wie in CHEFS: »Wir gehören nirgendwo hin / und zu niemand. Wir sind einfach nur Leute / einfache Leute, die nicht Chef sein wollen / die keine Chefs dulden können.« Der Mensch ist seit Herta Müller ein großer Fasan auf der Welt und oft wird er gerupft, wenn er nichts hat: »So war die Welt geworden, immer schön nach unten treten.« Die Welt ist ein gewalttätiges Paradies, dem der Autor einfühlsam, seismografisch und mit scharfer Beobachtungsgabe, im Duktus der dichterischen Halbdistanz, nachspürt. Er tut dies in der unverstellten Sprache einer poetischen, sensiblen Sachlichkeit, die lakonisch pointiert: »Jahre zuvor war mein Großvater hier. Wen / er erschoss, sagte er nicht. Was er überlebte / davon sprach er oft, auch zu seinen Enkeln.« (CHARKIW 42-92-22)

Die Lyrik von Kasnitz weiß um das Wichtige, ist beziehungsreich, witzig, welthaltig und always on the road, ob nun auf den Flügeln des AMAZONAS WÜRGEVOGEL, in Frankfurt, Fulda oder, als leicht dadaistische Intervention, irgendwo im Oxymoron, einem »Wort in der Nachbarschaft von Ozelot und Okapi«. Immer wieder haben die Texte auch die Qualität einer assoziativen Zeitmaschine, so wie in dem Gedicht KRANKENHAUS AM RANDE DER STADT – »du kommst stehend und / gehst liegend, sagen die Alten« – für mich, durch die tschechoslowakische Serie gleichen Namens, brutalistisch-betongrau eingefärbtes Fernseherlebnis Ende der 1970er-Jahre.

Ganz stark: IM BOOT MIT BYRON – »Stolz und missraten, wie nur Dichtung es sein kann […] Stolz und missraten, das Gedicht / in der Tasche, wo die Faust sich ballt« – was für eine zutreffende, schön schillernde Hommage an den freiheitskämpfenden Boxer-Poeten und AUF DER MUSEUMSINSEL. In diesen 13 Zeilen zeigen sich, ebenso verdichtet wie erhellend, literarisches Engagement, Mut zur Invektive und die, bei allem Zugeständnis an die existentiellen Grenzgänge des Gegenwärtigen, heilsamen Kräfte der Poesie:

Wir stehen den antiken Steinen gegenüber
die uns mit ihren stumpfen Augen anschauen
verständnislos, warum wir uns vor ihren Göttern
nicht verneigen. Der Sohn erklärt dem Vater
ein paar interessante Details aus dem Studium
der Archäologie. Wir müssen auf die Jungen
hören, auf die Armen, auf die Nichtigsten.
Wir müssen zu den Steinen gehen und sie
umarmen sie mit unsrer Wärme tränken.
Wir müssen frische Luft schnappen, draußen
am Wasser, unter dem schiefergrauen Himmel
wo unsere Welt jeden Tag ein Steinchen mehr kollabiert.

Resümee: Gedichte ohne Attitüde, aber mit Sinn, Sound und Sensibilität, die Menschen, Orte und Situationen poetisch auf den Punkt bringen.
Adrian Kasnitz: Im Sommer hatte ich eine Umarmung. Gedichte. parasitenpresse, Köln/Leipzig/Madrid 2023. Paperback, 90 Seiten, 14,00 €.

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