Nach dem Dorf ist vor dem Dorf

Veröffentlicht von Dr. Manfred Luckas am 17. Januar 2024 in Rezensionen

Der poetenladen in Leipzig erfreut sich bei seinem poesiebegeisterten Publikum und auch im Literaturbetrieb seit jeher hoher Wertschätzung. Davon legen die zahlreichen Auszeichnungen mit dem Deutschen Verlagspreis Zeugnis ab. Immer wieder erfreut vor allem das ambitionierte, qualitativ hochwertige Programm, das Verleger Andreas Heidtmann Jahr um Jahr auf die Beine stellt – aktuell von Andreas Altmann und jungen Stimmen wie Pia Birkel bis hin zu Tom Schulz und eben Hans Thill, dem sensiblen Haudegen, dessen Poesie stets etwas wagt und von dem Michael Braun sagt: »Da ist also ein Dichter mit überaus überraschenden Bildfindungen und Verwandlungsstrategien, der immer wieder sich und uns zuruft: Bitte schön unregelmäßig schreiben!«

Hans Thill, Leiter des Künstlerhauses Edenkoben und der Übersetzerwerkstatt Poesie der Nachbarn, hat nun, nach Der heisere Anarchimedes (2020), sein zweites Buch im poetenladen Verlag veröffentlicht. Es nennt sich Neue Dörfer und wird vom Autor mit milder Ironie als Kleine Prosa tituliert. In Wahrheit verbirgt sich dahinter ein deutungslustiger David im siegreichen Gattungswettstreit mit der Gigantomanie literarischer Großstadtmanifestationen.

Die Welt bedeckt hier ein Schwarm von Dörfern, sie kommen in zweimal zwölf Runden, pardon Teilen, daher und reichen von den stofflichen und klassischen bis hin zu den sprichwörtlichen und den aufgegebenen. Oft dräuen schwere Himmel über ihnen, aus denen sich Assoziationsgewitter der ganz besonderen Art entladen. Und immer gibt es Das nächste Dorf, Schlag auf Schlag, darunter auch die satten, bewohnt von »Toten Sprachen, abgemagert und ausgespuckt von den Witwen eines nativen Soziolekts.«

Meine persönlichen Lieblingsdörfer sind dann doch die maulfaulen. Da finden sich Sätze, die bleiben, zum Verweilen einladen in der entgrenzten Welt der Poesie, aufgeladen mit Verweisen, Referenzen und Zitaten, brutal-verspielt wie ein Muscle Car aus den 1970ern: »Im Zentrum dann die Trümmer des Gelächters meines Vaters, von Archäologen bepinselt« oder «UNSERE GEDANKEN machen Sprünge, die Angst treibt sie unters Dach der Sprache« oder, besonders schön, »Gehe ich auf Platonsohlen zum Symposion?« Da findet sich aber auch, in all ihrer verschlüsselten Offenheit, die Maxime des literaturschaffenden Homo Heidelbergensis: »Meine Wörter sind abschüssig. Was ich in mir finde, bin immer nur ich.« Und dieses Ich beherrscht die Klaviatur des Poetologischen aus dem Effeff. Dazu zählt nicht zuletzt auch das bruchlose Verfugen von Populär- und Hochkultur: »Bin ich der SC Freiburg oder T. S. Eliot auf Abwegen?«

Mit diesem Buch möchte man sich, wie Oblomov im Bademantel und »faul wie ein Hashtag«, auf dem Sofa lümmeln, sich, jeder Satz eine Überraschung, inspirieren lassen, weiterlesen, am nächsten Tag nicht schon wieder nach Berlin fahren wollen, sondern eben lieber in das nächste Dorf, »ganz donau-schwäbisch oder Bodensee-something

Das Dorfleben, mithin das Dörfliche überhaupt, ist bei Hans Thill, einem Eulenspiegel unserer Zeit, fern jeder idyllischen Verklärung. Historisch tiefenscharf und zugleich nahe am Gegenwärtigen, ist es ist vielmehr die Phänomenologie aller fühlbaren und vorstellbaren Dörfer, eine poetische Topographie der Möglichkeiten – und nicht selten eine furiose Mental Map of Madness.

Resümee: Wissens- und erkenntnisgesättigte Mikroprosa, geschrieben mit dem großen Atem echter Sprachspielversiertheit, lebens- und leselustig. Wunderbar!
Hans Thill: Neue Dörfer. Kleine Prosa. Klappenbroschur, 168 S., 19,80 €, poetenladen Verlag, Leipzig 2023.

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