Blogeinträge in »Rezensionen«
Umarmung sommerlich oder Im Boot mit Byron auf der Museumsinsel
Für mich ist die parasitenpresse einer der interessantesten und innovativsten Verlage in Deutschland und jederzeit für eine überraschende Publikation jenseits des Mainstreams zu haben. Seit 2000 gibt der kleine, unabhängige Kölner Verlag deutschsprachige und internationale Prosa und Lyrik heraus und erhielt für seine literarischen Ambitionen 2021 den Deutschen Verlagspreis. In den letzten Jahren sind, unter mehr als 150 Einzeltiteln, zahlreiche deutschsprachige Debüts erschienen, von denen ihrerseits viele ausgezeichnet wurden. Zu nennen wären hier Werke von Autor:innen wie Kinga Tóth, Matthias Nawrat, Alexander Estis – gerade geehrt mit dem Kurt-Tucholsky-Preis für literarische Publizistik – und nicht zuletzt Adrian Kasnitz, dem engagierten […]
Vollständigen Eintrag lesen »Spiel ohne Grenzen oder I’ve been looking for freedom
Die Neunziger Jahre enden am 11. September 2001. An ihrem Beginn fällt die Berliner Mauer, an ihrem Ende fallen zwei Türme in New York City. Am Anfang des Jahrzehnts glauben manche, dass die Geschichte nunmehr an ihr Ende gekommen ist. Am Ende des Jahrzehnts scheint die Geschichte einen neuen Anfang zu nehmen; vielleicht findet aber auch nur der Glaube sein Ende, dass es ein Ende der Geschichte geben könnte. In gewohnt eleganter Manier formuliert Jens Balzer sein Resümee der 90er-Jahre, in denen sich der Freiheitsbegriff Schritt für Schritt von der anfänglichen Entfesselung hin zum Beginn all der identitären Zwänge und […]
Vollständigen Eintrag lesen »Der Keim oder Zusammenbruch und Reue in Norwegen
Norwegen ist ein Literaturland. Henrik Ibsen und Knut Hamsun kennt fast jeder, Karl Ove Knausgård sowieso, bei der Literaturnobelpreisträgerin Sigrid Undset oder Autor Tarjei Vesaas sah es lange Zeit hingegen anders aus. Zumindest bei Vesaas gibt es mittlerweile untrügliche Zeichen der Hoffnung und verantwortlich dafür ist, wieder einmal, Deutschlands momentan interessantester Verleger: Sebastian Guggolz. Nach Das Eis-Schloss und Die Vögel hat nun auch endlich Der Keim, von Hinrich Schmidt-Henkel kongenial ins Deutsche übertragen, noch einmal das Licht der Welt erblickt. Dieser psychologisch aufgeladene, ungeheuer intensive Roman über den wahnsinnigen Neuankömmling Andreas Vest – »Er war versehrt, ohne äußere Anzeichen, erfüllt […]
Vollständigen Eintrag lesen »Vienna calling oder Die Straßen der glücklichen Geheimnisse
Immer hatte ich ein heimliches Leben, und immer war das mein wahres Leben. Dieses Zitat von Imre Kertész stellt Arno Geiger seinem neuen Buch voran, und ich freue mich auf jedes neue Buch von Arno Geiger. Da er pünktlich alle fünf Jahre seine literarische Ernte einfährt, war es kein wirkliches Geheimnis, dass es nach der Drachenwand 2018 nun wieder soweit ist. Und nun also Das glückliche Geheimnis, das lange mit dem Versprechen angekündigt wurde, endlich etwas über das Doppelleben eines Autors zu erfahren, der zwar aus der deutschen Gegenwartsliteratur nicht mehr wegzudenken. ist, aber wohl kaum für plakative Enthüllungen in […]
Vollständigen Eintrag lesen »Neue Himmerlandsgeschichten oder Dänische Trilogie
»Das Leben ist zu kurz. Die Zeit vergeht.« Dem ist wohl erkenntnistheoretisch kaum etwas hinzuzufügen außer der Quelle des Zitats, das aus den Himmerlandsgeschichten stammt, dem zweiten, 1904 erschienenen, Band der Trilogie von Johannes V. Jensen. Den ersten, Himmerlandsvolk, veröffentlichte er 1898 und wurde damit über die Grenzen Dänemarks hinaus mit einem Schlag berühmt. 1910 schloss er mit Neue Himmerlandsgeschichten die große Geschichts- und Geschichtenschreibung seiner Heimatregion ab. Erstaunlicherweise sind Jensens literarische Preziosen in all den Jahren niemals vollständig ins Deutsche übertragen worden, was auch Ulrich Sonnenberg moniert, der der Beschreibungskunst des Autors ebenso präzise wie sensibel nachspürt und für […]
Vollständigen Eintrag lesen »Lügen über meine Mutter oder Frauen von Gewicht
»Wie gefährlich das ist. Wenn ein Mensch alles sein soll.« In Frankreich haben die Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux sowie Didier Eribon und Edouard Louis den Weg geebnet, den nun in Deutschland Autor:innen wie Christian Baron, Katja Oskamp oder Daniela Dröscher weitergehen. Auch sie binden, autofiktional und aus soziologischer Perspektive schreibend, eigene Erlebnisse mit kritischer Beobachtungsgabe an gesellschaftliche Entwicklungen an. Dabei arbeiten sie sehr hellsichtig heraus, dass alles mit allem zusammenhängt: Geschlechterrollen, ethnische Verortung, Herkunft und damit auch der lange erfolgreich verdrängte Begriff der Klasse. Das Memoir Zeige deine Klasse, der gedankliche Vorgänger dieses Romans, trägt seinen Titel also nicht umsonst. Eine […]
Vollständigen Eintrag lesen »Praga Obscura oder Es liegt ein Grauschleier über der Stadt
»Ich lebte in einem Vakuum und suchte Gleichgesinnte auf den leer gefegten Straßen des Sozialismus, Nacht für Nacht, damals in Prag.« Mit diesen Worten blickt Josef Šnobl, gebürtiger Prager und Wahlkölner, in seinem leider letzten Buch auf eine 70er-Jahre-Jugend in der tschechischen Hauptstadt zurück. Die damaligen Verhältnisse schreien geradezu nach Auflehnung gegen den real delirierenden Sozialismus mit seinen Normierungszwängen. Doch der lebensfeindliche Konformismus des Systems reproduziert sich auch in den persönlichen und familiären Beziehungen. Beim erbitterten Schlagabtausch mit seinem Vater, der in ihm nur einen Automechaniker sieht, holt er sich oft eine blutige Nase. Sein Wunsch, einen eigenen Weg zu […]
Vollständigen Eintrag lesen »Wundersam war die Stadt
»Die Stadt brauchte man nicht zu hassen, nein, man musste sie erobern.« Stepan, Dichter vom Dorf und Protagonist in Walerjan Pidmohylnyjs großem Roman Die Stadt, meint dies ebenso ambitioniert-naiv wie im übertragenen Sinne. Aber da es sich bei dieser Stadt um Kyjiw handelt – wenn auch Ende der 1920er-Jahre – fällt es gerade jetzt schwer, den Satz unbefangen zu lesen. Nicht nur das Schreiben eines Buches, auch seine Rezension und Rezeption sind ja Herz und Motor der literarischen Zeitmaschine. Und deren Räder standen bei dem Meisterwerk, das nicht nur zum Kernbestand der ukrainischen literarischen Moderne, sondern dem der Weltliteratur zählt, […]
Vollständigen Eintrag lesen »Von Humbürgern und anderen Variationen der Gattung Mensch
»Für einen Rumänen, der lesen kann, ist es das Schwerste, nicht zu schreiben.« Dieser Aphorismus, einer der letzten Gedanken in Humbug und Variationen, bringt Wesen und Haltung von Ion Luca Caragiale wunderbar auf den Punkt. Da ist vordergründig der Humor, jederzeit pointiert und treffsicher, aber darüber hinaus noch so viel mehr. Der Klassiker der rumänischen Literatur wird gerne eindimensional vereinnahmt – zum Beispiel als bedeutendster Dramatiker seines Landes – sehr gerne unterschätzt und manche kennen ihn gar nicht. Dies zu ändern, hat sich der Berliner Guggolz Verlag oder besser, sein Gründer und Inhaber, Sebastian Guggolz, auf die Fahnen geschrieben. Seit […]
Vollständigen Eintrag lesen »Nachtfahrt oder Cologne Taxi Driver
Ganz am Ende des grandiosen Fototagebuchs Nachtfahrt – Ein Taxi Blues schreibt Josef Šnobl, Künstler und Taxifahrer, Fotograf und Literat in Personalunion, den grandiosen Satz »Die Verlierer sind unsere Doppelgänger«. 25 Jahre Taxifahren machen also weise und zeigen, dass zwischen Menschen immer und zu jeder Zeit alles möglich ist: Gewalt und Zärtlichkeit, Verzweiflung und Freude, Geschwätz und gute Gespräche, Hass, Liebe und Erotik – das alles verdichtet in dem »metallenen Sarg«, wie Paul Schrader das Taxi einmal genannt hat. Das war übrigens zu der Zeit, als er das Drehbuch zu einem Film namens Taxi Driver geschrieben hat. Und wenn man […]
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