Blogeinträge in »Rezensionen«
Neue Himmerlandsgeschichten oder Dänische Trilogie
»Das Leben ist zu kurz. Die Zeit vergeht.« Dem ist wohl erkenntnistheoretisch kaum etwas hinzuzufügen außer der Quelle des Zitats, das aus den Himmerlandsgeschichten stammt, dem zweiten, 1904 erschienenen, Band der Trilogie von Johannes V. Jensen. Den ersten, Himmerlandsvolk, veröffentlichte er 1898 und wurde damit über die Grenzen Dänemarks hinaus mit einem Schlag berühmt. 1910 schloss er mit Neue Himmerlandsgeschichten die große Geschichts- und Geschichtenschreibung seiner Heimatregion ab. Erstaunlicherweise sind Jensens literarische Preziosen in all den Jahren niemals vollständig ins Deutsche übertragen worden, was auch Ulrich Sonnenberg moniert, der der Beschreibungskunst des Autors ebenso präzise wie sensibel nachspürt und für […]
Vollständigen Eintrag lesen »Lügen über meine Mutter oder Frauen von Gewicht
»Wie gefährlich das ist. Wenn ein Mensch alles sein soll.« In Frankreich haben die Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux sowie Didier Eribon und Edouard Louis den Weg geebnet, den nun in Deutschland Autor:innen wie Christian Baron, Katja Oskamp oder Daniela Dröscher weitergehen. Auch sie binden, autofiktional und aus soziologischer Perspektive schreibend, eigene Erlebnisse mit kritischer Beobachtungsgabe an gesellschaftliche Entwicklungen an. Dabei arbeiten sie sehr hellsichtig heraus, dass alles mit allem zusammenhängt: Geschlechterrollen, ethnische Verortung, Herkunft und damit auch der lange erfolgreich verdrängte Begriff der Klasse. Das Memoir Zeige deine Klasse, der gedankliche Vorgänger dieses Romans, trägt seinen Titel also nicht umsonst. Eine […]
Vollständigen Eintrag lesen »Praga Obscura oder Es liegt ein Grauschleier über der Stadt
»Ich lebte in einem Vakuum und suchte Gleichgesinnte auf den leer gefegten Straßen des Sozialismus, Nacht für Nacht, damals in Prag.« Mit diesen Worten blickt Josef Šnobl, gebürtiger Prager und Wahlkölner, in seinem leider letzten Buch auf eine 70er-Jahre-Jugend in der tschechischen Hauptstadt zurück. Die damaligen Verhältnisse schreien geradezu nach Auflehnung gegen den real delirierenden Sozialismus mit seinen Normierungszwängen. Doch der lebensfeindliche Konformismus des Systems reproduziert sich auch in den persönlichen und familiären Beziehungen. Beim erbitterten Schlagabtausch mit seinem Vater, der in ihm nur einen Automechaniker sieht, holt er sich oft eine blutige Nase. Sein Wunsch, einen eigenen Weg zu […]
Vollständigen Eintrag lesen »Wundersam war die Stadt
»Die Stadt brauchte man nicht zu hassen, nein, man musste sie erobern.« Stepan, Dichter vom Dorf und Protagonist in Walerjan Pidmohylnyjs großem Roman Die Stadt, meint dies ebenso ambitioniert-naiv wie im übertragenen Sinne. Aber da es sich bei dieser Stadt um Kyjiw handelt – wenn auch Ende der 1920er-Jahre – fällt es gerade jetzt schwer, den Satz unbefangen zu lesen. Nicht nur das Schreiben eines Buches, auch seine Rezension und Rezeption sind ja Herz und Motor der literarischen Zeitmaschine. Und deren Räder standen bei dem Meisterwerk, das nicht nur zum Kernbestand der ukrainischen literarischen Moderne, sondern dem der Weltliteratur zählt, […]
Vollständigen Eintrag lesen »Von Humbürgern und anderen Variationen der Gattung Mensch
»Für einen Rumänen, der lesen kann, ist es das Schwerste, nicht zu schreiben.« Dieser Aphorismus, einer der letzten Gedanken in Humbug und Variationen, bringt Wesen und Haltung von Ion Luca Caragiale wunderbar auf den Punkt. Da ist vordergründig der Humor, jederzeit pointiert und treffsicher, aber darüber hinaus noch so viel mehr. Der Klassiker der rumänischen Literatur wird gerne eindimensional vereinnahmt – zum Beispiel als bedeutendster Dramatiker seines Landes – sehr gerne unterschätzt und manche kennen ihn gar nicht. Dies zu ändern, hat sich der Berliner Guggolz Verlag oder besser, sein Gründer und Inhaber, Sebastian Guggolz, auf die Fahnen geschrieben. Seit […]
Vollständigen Eintrag lesen »Nachtfahrt oder Cologne Taxi Driver
Ganz am Ende des grandiosen Fototagebuchs Nachtfahrt – Ein Taxi Blues schreibt Josef Šnobl, Künstler und Taxifahrer, Fotograf und Literat in Personalunion, den grandiosen Satz »Die Verlierer sind unsere Doppelgänger«. 25 Jahre Taxifahren machen also weise und zeigen, dass zwischen Menschen immer und zu jeder Zeit alles möglich ist: Gewalt und Zärtlichkeit, Verzweiflung und Freude, Geschwätz und gute Gespräche, Hass, Liebe und Erotik – das alles verdichtet in dem »metallenen Sarg«, wie Paul Schrader das Taxi einmal genannt hat. Das war übrigens zu der Zeit, als er das Drehbuch zu einem Film namens Taxi Driver geschrieben hat. Und wenn man […]
Vollständigen Eintrag lesen »Kay Ganahl: Henrys Wendejahre – Roman eines Werdegangs
Der Autor Kay Ganahl begleitet in seinem Roman Henrys Wendejahre seinen Protagonisten Henry Schlock mit tiefem Einfühlungsvermögen bei Henrys Versuchen, nach der Wende 1989 in einem für Henry völlig veränderten Alltag sein neues Leben zu begreifen. Vor der Wende hat Henry als Agent beim Staatssicherheitsdienst der DDR gearbeitet. Als die DDR aufhörte zu existieren, findet Henry im Westen eine Stelle als Angestellter bei der Organisation Stempel. »Jemand wie Henry kann sich nicht so einfach als Bürger des Gegenwartsdeutschland fügen«, beschreibt der Autor Henrys berufliche und private Bemühungen, in einem einzigen Deutschland wieder so eine bedeutende Rolle zu spielen, wie er […]
Vollständigen Eintrag lesen »Gemma Habibi oder Boxen im Dreivierteltakt
»Nichts ist heftiger als das«: Boxen ist Kampf, ist Tanz, wie bei Ali – float like a butterfly, sting like a bee – Boxen ist immer auch Musik. Ein Fighter, der keinen Rhythmus hat, ist keiner, einer, der ihn verliert, verliert den Kampf. Lorenz hat seinen letzten verloren, aber der fand nicht im Ring statt. Die Rechte kaputt, wer weiß, was die Zukunft bringt, aber Aufgeben ist keine Option, so lange du stehen kannst, wirst du kämpfen. Und deine Schlagserien weiter üben zu Klängen zwischen Salsa und Schlager. Das hat Trainer Simon, früher DDR, heute Wien, Berlin, Zürich, Lorenz beigebracht. […]
Vollständigen Eintrag lesen »Kay Ganahl (Hrsg.), Dagmar Weck, Dagmar Schenda: Blicke auf Literatur und Leben
Wenn gute Freunde, liebe Kollegen ein Buch herausbringen, ist man als Rezensent gefordert. Erstens muss man, soll man alle persönlichen Befindlichkeiten hinter sich lassen, anderseits soll man/muss man auch die persönlichen Kenntnisse von einander berücksichtigen. Und von da an wird es schwierig. Ich versuche es trotzdem. Dabei will ich nicht in der Reihenfolge der abgedruckten Texte vorgehen, ich werde mich an den einzelnen Autoren abarbeiten und beginne gerne mit meiner lieben verehrten Dagmar Weck: Sie ist mit vier Texten vertreten. Allen ist gemeinsam, dass die Frauen in diesen Texten ihre Probleme mit den Männern haben, es sind immer wieder dominierende […]
Vollständigen Eintrag lesen »Nordwasser oder Sehet den Menschen, das Tier
Er schnaubt einmal, streicht sich über den borstigen Kopf und rückt sich den Schritt zurecht. Er riecht an den Fingern, dann lutscht er langsam jeden einzelnen und leckt die letzten Reste ab, um auch wirklich alles für sein Geld bekommen zu haben. Wer hofft, es ginge nach diesen ersten Sätzen des Romans Nordwasser entspannter weiter, dem seien gleich zu Beginn alle Illusionen genommen. Der schottische Autor Ian McGuire schickt seine Leserinnen und Leser auf den folgenden 350 Seiten nämlich auf eine literarische Tour de Force mit der impliziten Aufforderung, alle Hoffnung fahren zu lassen. Und Henry Drax, Harpunierer auf dem […]
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